Histor. Wagner Trouvaillen

 

Ausgrabungen von Trouvaillen des Wagnergesangs

 

Geht Countertenor Jochen Kowalski, dessen sängerische Karriere sich dem Ende zuneigt, nun unter die Schatzgräber historischer Aufnahmen? Jedenfalls ist ihm die Veröffentlichung einer der beeindruckendsten „Lohengrin“-Aufnahmen zu verdanken, die je zu hören war. Ivan Kos­lowskis Interpretation der Titelpartie in einem kompletten "Lohengrin" von 1949, der bislang unbekannt war, ist schier sensationell. Nie habe ich - der Leistungen Nicolai Geddas, Sándor Konyas und Peter Anders eingedenk - einen derart natürlich phrasierenden, mühelos alle Klip­pen der Partie meisternden Lohengrin-Sänger gehört. Mit schlank geführter, strahlender, exakt fokussierter Stimme von durchschlagskräftigem Material artikuliert Koslowski geradezu lied­haft, ohne je zu forcieren. Koslowski - Startenor des Moskauer Bolschoi von 1926-1957 - war ein Phänomen. Selbst im Alter von 73 (!) Jahren sang er mit verblüffender Selbstverständlichkeit eine Grals­erzähl­ung, wie sie kaum einer der heute 30-Jährigen zu singen vermag. Einer der wertvollen Bonus-Tracks dieses „Lohengrins“ dokumentiert es. Noch an seinem 90sten Geburtstag, am 24.3.1990, sang er in einer Gala-Aufführung des Bolschoi den Triquet in „Eugen Onegin“. Aber auch die übrige Besetzung der Aufnahme ist den besten Konkurrenzaufnahmen des Werks eben-bürtig. Ausnahmslos große russische Stimmen, die ohne mit dem überreichen Material zu prot-zen, kultivierten Wagnergesang auf russisch demonstrieren. Erstaunlich, wie dabei alles "Unbe-hagen an Wagner" abfällt. Lernen kann man aus diesem „Lohengrin“ zumindest, was es heißt Wagner nicht "wie Wagner" zu singen, eher wie Verdi oder Russische Oper eben. Dazu braucht´s allerdings einen so souveränen, immer auf die Sänger bedachten Dirigenten wie Samuel Samo-sud, Grand­seigneur des Moskauer Bolschoi-Theaters, dem viele Urauf­führungen der russischen und sowjetischen Oper zu ver­danken sind. Mit seinem zwar romantisch-forschen, aber ganz un-teutonisch schwerelosen „Lohengrin“ reiht er sich in die Riege der besten Wagner-Dirigenten ein, jenseits von allem falschen Wagner-Pathos. Auch klangtechnisch ist diese Studio-Aufnahme hervorragend.   

 

Dagegen fällt die von Maurice Abravanel geleitetet, vom Rundfunk live mitgeschnittene und an- und abmoderierte, vom Publikum stürmisch gefeierte Met-Aufführung aus dem Jahre 1937 schon technisch ab. Natürlich sind die stimmlichen Vorzüge der Aufnahme nicht zu verkennen. Die warmtimbrierte Elsa der jungen Kirsten Flagstadt, der ganz französisch empfun­dene Lohengrin von René Maison, der virile Telramund Julius Huehns gehören zu den besten Interpreten ihrer Partien.  Maurice Abravanels energischer, geradezu attackierender Zugriff auf Wagner zählt zum Modernsten, zum Expressivsten, was es an Wagner-Exegese gibt, eher von Kurt Weill und Igor Stravinsky inspiriert, als von deutschtümelndem Tempel­dienst. Schon deshalb ein unverzichtbares Ton-Dokument. Leider akustisch unbefriedigend.

 

Dagegen wurde - in sehr guter Tonqualität - endlich das lang erwartete, ebenfalls live mitge-schnittene  komplette erste Nachkriegs-„Rheingold“ Bayreuths unter Leitung Herbert von Kara-jans veröffent­licht. Von seinem ersten Bayreuther „Ring“ 1951 gab es bisher nur den ersten Akt der Walküre bei EMI. Es bleibt zu hoffen, daß das Label Walhall auch die übrigen Teile der Tetra-logie herausbringt, mitge­schnitten sind sie ja sämtlich. Karajan dirigiert dieses "Rhein­gold", im Gegensatz zu seinen späteren Berliner bzw. Salzburger Produktionen wesentlich dramatischer, packender, theatralischer. Dieses "Rheingold" jedenfalls ist mitreißend von Anfang bis Ende, von der späteren Streamline- und Oberflächenglanz-Ästhetik Karajans noch weit entfernt. Der Luxus der sängerischen Besetzung ist geradezu schwindelerregend.  Elisa­beth Schwarzkopf singt die kulturvollste Woglinde, die man je hörte. Heinrich Pflanzl als Alberich und Paul Kuen als Mime sind Bayreuther Urgestein an Charaktergesang. Ehr­furchtgebietend auch Ruth Sieverts abgrün-dige Erda und Sigurd Björlings Wotan-Autorität. 

 

Erstaunlicherweise ist der unter Studiobedingungen in Hamburg produzierte "Fliegende Hollän-der" von 1951 im Klangbild wesentlich matter als der Bayreuther Livemitschnitt Kara­jans. Zu schweigen vom eingeschränkteren Temperament Wilhem Schüchters. Aber kaum je hat man ei-nen keuscheren Steuermann als den von Helmut Krebs gehört. Das ist Wagner­gesang aus der Bach-Perspektive. Kurt Böhmes Daland hat dagegen beglückende Boden­haftung. Hans Hotter in der Titelpartie ist stimmlich zwar noch in Hochformat, aber die technischen Mängel und Schlam-pereien seines Singens, sein "Wobbeln", seine nasale Ton­gebung, seine unsichere Stimmführung  demonstrieren schon in dieser Aufnahme, dass es wohl eher darstellerische Faktoren gewesen sein müssen, die sein überragendes Image als Wagner­sänger rechtfertigten. Faszinierend dagegen die Senta der zu Unrecht vergessenen Helene Werth, Ensemblemitglied der Hamburgischen Staatsoper von 1938 bis 1963 und eine der hochdramatischen Säulen des Ensembles. Der Aus-bruch des Krieges hatte ihre internationale Karriere als Wagnersängerin verhindert.  

 

Unter der Rubrik "besonders wertvoll" dürfen die nun erstmals im Westen veröffentlichten Wesendonck-Lieder in russischer Sprache firmieren, gesungen von der Altistin Maria Petrowna Maxakova. Sie war eine der bedeutendsten russischen Verdi-Sängerinnen des Bolschoitheaters und singt die Wesendonck-Lieder mit einer Chuzpe und Sinnlichkeit, wie sie nur noch Christa Ludwig erreichte. Einzigartig ist auch die glitzernde, an instrumentalen Details reiche, ganz aus dem Vokalen begriffene orchestralen Behandlung der Lieder seitens des Dirigenten Niolai Golovanov. Ein bestechendes Musterbeispiel an intelligenter Phrasierung und Artikulation sind auch seine Wagner-Ouvertüren und -Vorspiele.  Grigorij Nelepp, einer der großen Tenöre Leningrads und Moskaus in den  30er bis 50er Jahren, straft mit seinem mühelos gesungenen Preislied des Stolzing aus den "Meister­singern" alle deutschen "Heldentenor"-Vorurteile Lügen. Leider lässt die aufnahme­technische Qualität zu wünschen übrig. Dennoch dank an Jochen Kowalski für die Beschaffung auch dieser Trouvaille unter den Rarissima des Wagnergesangs.  

 

 

 Wagner: Lohengrin.

Ivan Koslowski (Lohengrin), Elisweta Schumskaja (Elsa), Eugenia Smolenskaja (Ortrud), Ilja Bogdanov (Telramund), G. Troitski (König Heinrich), Juri Galkin (Heerrufer).

Radio Sinfonie Orchester der UdSSR, Samuel Samosud.

Walhall WLCD 0037 (3 CDs); Bonus: Rare Aufnahmen von Ivan Koslowski

AD: 1949

 

Wagner: Lohengrin

René Maison (Lohengrin), Kirsten Flagstad (Elsa), Karin Branzell (Ortrud), Julius Huehn (Telramund), Ludwig Hoffmann (König Heinrich), Arnold Gabor (Heerufer).

Chur & Orchester der Metropolitain Opera,

Maurice de Abravanel.

Walhall WLCD 0011 (3CDs);

AD: 1937(live)

 

Wagner: Das Rheingold

Sugurd Björling (Wotan), Ira Malaniuk (Fricka), Ruth Sievert (Erda), Heinrich Pflanzl (Alberich), Paul Kuen (Mime), Ludwig Weber (Fasolt), Friedrich Dalberg (Fafner), Elisabeth Schwarzkopf (Woglinde) u. a..

Orchester der Bayreuther Festspiele,

Herbert von Karajan.

Walhal WLCD 0034 (2 CDs)

AD: 1951 (live)

 

Wagner: Der Fliegende Holländer

Hans Hotter (Holländer), Helene Werth (Senta), Bernd Aldenhoff (Erik), Kurt Böhme (Daland), Helmut Krebs (Steuermann), Res Fischer (Mary).

Chor und Sinfonieorchester des Norddeutschen Rundfunks,

Wilhelm Schüchter.

Walhall WLCD 0038 (2 CDs)

AD: 1951

 

Wagner: Wesendonck-Lieder, Orchestermusik und Ausschnitte aus: Rienzi, Holländer, Tannhäuser, Tristan, Meistersinger, Parsifal.

  1. P. Maksakova (Wesendonck-Lieder), G. Nelepp (Preislied des Stolzing)

Russisches Orchester Moskau, Radio-Sinfonieorchester Moskau,

Nikolai Golovanov

Gebhardt JGCD 0055-2 (2 CDs)

AD: 1947-52

 

 

Beitrag für OPERNWELT, 2004