Musik-Theater & mehr
Wien, Wien nur Du allein...
Michael Meyer
Moderne als Geschichtsvergewisserung
Musik und Vergangenheit in Wien um 1900
„Wien, Wien nur Du allein sollst stets die Stadt meiner Träume sein.“ So lautet die erste Zeile des Evergreens von Rudolf Sieczynski. Wien gilt als die Stadt des Wiener Walzers. Wien ist bis heute eine Musikstadt, ist die „Stadt der Geiger und Tänzer“ (Fritz Lange). Als Säulenheilige der Wiener Musikgeschichte gelten Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert und Johann Strauss. Sie gehören zum nostalgischen Topos Wien bis heute, ebenso wie der Prater, der Zentralfriedhof oder die Hofburg.
Doch schon 1906 schrieb der Schriftsteller Hermann Bahr in seiner Wien-Monographie: „Was wird nun aus Wien? ... Täuschen wir uns nicht, wir haben ausgespielt, wir sind vorbei, wir sind Geschichte, wir sind eine schöne Erinnerung!“ Ferdinand von Saar hingegen mahnte schon in seinen Wiener Elegien 1893: „Scheltet mir nimmer Altwien.“
Zurecht stellt der Autor des 243 Seiten starken Buches fest: „Bahr und Saar kontrastieren unter Einbeziehung der Musik das neue Wien mit seiner Vergangenheit. Bei ersterem ist von einer modernen Großstadt die Rede, die ein Problem hat mit dem ‚alten Schein‘, der auf ihr ‚lastet‘. Saar entwirft dem gegenüber mit ‚Altwien‘ eine verehrungswürdige Gegenwelt, die Zeit der ‚Wiener Klassik‘ wird als heile Welt beschrieben, vor der die „Neuern“ Respekt haben sollen.“
Thema des Buches ist die Diagnose einer „verklärenden Rückschau auf die Vergangenheit, vor dem Hintergrund einer Skepsis gegenüber der Gegenwart, einer „Aneignung des Vergangenen“, ja des Umgangs mit „musikalischer Vergangenheit“ in Wien um 1900. Es ist die Wiener Moderne. Der Versuch einer solchen Zusammenschau wurde bisher noch nicht unternommen. Er ist Frucht eines an der Universität Graz von 1995 bis 2005 betriebenen Spezialforschungsbereichs “Moderne- Wien und Zentraleuropa um 1900.“ Ein großes Thema, das eine Unmenge von Quellenmaterial aufweist. Beschränkung und Auswahl verstehen sich daher von selbst.
Wie der Musikwissenschaftler Michael Meyer zurecht schreibt: „Im Grunde lässt sich praktisch alle damals komponierte Musik als Auseiendersetzung mit Vergangenheit lesen.“ Bestes Beispiel: Gustav Mahler. Seine „Sinfonien mit ihrem Einbezug von Märschen, Ländlern und Walzern im Rahmen eines Weiterdenkens der von Beethoven herkommenden Sinfonietradition genauso wie die der Tradition Johann Strauß‘ und Josef Lanners erwachsenen Walzerkompositionen Carl Michael Ziehrers.“
Es geht um paradigmatisch erkannte „Formen des Umgangs mit Geschichts- und Erinnerungskultur“ Wiens in historiographischen Arbeiten, die Michael Meyer interessieren: Festanlässe, Wiener Musikgeschichtsschreibung, Feuilletons und Programmschriften. Wer glaubt, man lese in diesem Buch nur affirmativ-identitätsstiftende Zeugnisse der Musikstadt Wien, irrt. Gerade die von der Gründerzeit bis zum Zusammenbruch der Habsburgermonarchie reichende Identitätskrise steht im Mittelpunkt der 6 Kapitel, die in drei Abteilungen gegliedert sind: Urbanität und Fortschritt, Geschichte und Erneuerung, Distanz und Auflösung.
Das Buch ist eine Lektion in Stadt- und Musikgeschichte der Kaiserstadt, man liest „wie alles Gegenwärtige auf der Vergangenheit beruht“ (Eugen Guglia), aber auch über Legitimierung durch Geschichtsvergewisserung, „Umschwung“ und „Reform“ (E. Hanslick) und über die Geschichte des griechisch renaissancistischen Musikvereinsgebäudes, aber auch das empirisierend biedermeierliche Wiener Konzerthaus. Ein besonderes ausführliches wie detailliertes Kapitel ist dem Wiener Walzer gewidmet, er gilt bei Fritz Lange als „universell-gesellschaftsstiftende und entsprechend leicht popularisierbare Kunstform zum Vehikel der Erzeugung von Identität durch Geschichtsvergewisserung“.
Die große ‚Ausstellung für Musik- und Theaterwesen‘ im Jahre 1892 im Wiener Prater, so erfährt man, habe nach Hanslick den Besuchern sowohl „Belehrung“ als auch „Vergnügen“ geboten. Der Heroenkult der Jubiläumsfeiern für Schubert 1897 und Haydn 109 wird eingehend dargestellt, aber auch „linke Lesarten“ der Musikgeschichtspopularisierung, etwa im Satireblatt ‚Die Glühlichter‘.
Es wird nicht vergessen, dass „Geschichtsvergewisserung in Wien um 1900 auch eine radikale Erweiterung des Kanons der ‚Wiener Klassik‘ bis hin zu Anton Webern und den Kreis um Arnold Schönberg“ zur Folge hatte. Lebende Komponisten galten plötzlich als Alternative. In diesem Sinne gab es, wie David Josef Bach meinte „Trutzkonzerte“ gegen die affirmative Wiener Musikfestwoche 1912 mit Musik von Komponisten wie Schönberg, Schreker, Novàk, Suk, Berg und Webern. Sie galten als Leitfiguren der musikalischen Moderne um 1900.
Besonderes Augenmerk kommt in diesem Zusammenhang natürlich dem „Rosenkavalier“ von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal zu, dessen Walzer (-Sentimentalität) als ironische Brechung des maria-theresianischen Zeitalters verstanden werden darf. Paul Marsops schrieb schon 1911 zurecht, dass der Walzer Strauss nur dazu dient, „seine musikalisch-dramatischen Hexenkünste zu betreiben.“ Aber Julius Korngold konstatierte „für das maria-theresianische Wien trifft aber …der Walzer .. von modernem Gepräge … nicht zu.“ Insofern kam dem Wiener Walzer in diesem Stück gerade keine „nostalgische und legitimatorische Funktion“ zu. Im Gegensatz zu Operetten wie „Das Dreimädlerhaus“ oder „Die Försterchristel“ (als Beispiele vom Operettentyp der „Wiener Gemütlichkeit“ dürfe der „Rosenkavalier“ geradezu als „Spiegel des Problems ‚Wien um 1900‘ aufgefasst werden. Das eben macht das Moderne am „Rosenkavalier“ aus, diese „Verwendung des Wiener Walzers in der Oper“ und die „Distanznahme von dessen legitimatorischen Funktionen.“
Hermann Bahrs „Eipeldauer Elektra“ wird geradezu als Meta-Spott auf die Wiener Erinnerungs- und Geschichtskultur gedeutet, so wie „Ariadne auf Naxos (zumal in der Wiener Fassung) als ein Beispiel für „die Auflösung historischer „Eigentlichkeit‘“.
Michael Meyr hat ein außerordentlich gelehrtes wie lehrreiches Buch über Wien, Wiener Befindlichkeit und Wiener Musikgeschichte um 1900 geschrieben, brilliant im Zugriff, profund im Wissen und gut lesbar. Eine hervorragende Bibliografie und ein gutes Register vervollständigen dieses äußerst empfehlenswerte Buch, in dem man viel lernt, viel begreift und ein Stück weit alle Wien-Nostalgie hinter sich lässt.
Beitrag auch in Operalounge