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Mozart jenseits des Mythos
Sein handschriftliches Werkverzeichnis als Faksimile
Wer kennt ihn nicht? Den meistgespielten, meistgeliebten „Klassiker“ der Welt. Alle lieben Wolfgang Amadeus Mozart, das Genie, das apollinische Wunderkind, den dionysischen Re-bell, den Urahn aller Popstars, auf deren Format er inzwischen vielfach reduziert wurde, im Film und auf der Bühne. Und doch wurde und wird Mozarts Musik – ungeachtet ihrer In-telligenz und subversiven Sprengkraft - noch immer häufig aufs Format der Verhunzung zurechtgestutzt zum Zwecke des romantisch besänftigenden Feierabend-Plaisiers für den bürgerlichen Mittelstand und seine gemütvolle Wertschätzung der „most beautiful classics“. Die Musikindustrie lebt davon. Kein anderer Komponist (außer Richard Wagner) wurde derart missverstanden, vereinnahmt, verharmlost, beweihräuchert und zum Mythos erhoben. Die absurdeste Ikone der Popularisierung Mozarts ist wohl die Mozartkugel. Das Genie als goldpapierverpacktes Betthupferl. Der Mozart jenseits des Mythos, der „wahre“ Mozart zeigt sich in seinen Briefen und in seinem eigenhändig verfassten Werkverzeichnis, das jetzt in einer vollständigen, aufwendig gestalteten Faksimileausgabe erschienen ist, die keinen Wunsch offen lässt und einlädt, Mozart neu zu entdecken.
Der allererste Eintrag in Mozarts eigenhändigem Werkkatalog, den er „Verzeichnüss aller mei-ner Werke“ nannte, gilt dem Es-Dur –Klavierkonzert KV 449. Er stammt vom 9. Februar 1784. In feiner, zierlicher Handschrift notiert Mozart das Werk und seine Besetzung. Daneben ein sogenanntes „Incipit“ mit den Eröffnungstakten des Musikstücks. Bei Vokalwerken stehen oft noch die Sängernamen der Uraufführungsbesetzung dabei. - Mozarts eigenhändiges Werk-verzeichnis ist eine Art „musikalisches Tagebuch“ und ein kreatives „Zeugnis der Blütezeit des Lebens dieses Musikers“, wie die Herausgeber betonen. Mozart führte es von 1784 bis wenige Wochen vor seinem Tod 1791. Wohlbekannte Stücke finden sich da neben weniger bekannten: Quartette, die seinem Freund Haydn gewidmet waren, aber auch die Oper „Die Hochzeit des Figaro“, „Die Zauberflöte“ und „Don Giovanni“, der am 28. Oktober 187 in Prag uraufgeführt wurde. Mozart nennt „Don Giovanni“ in seinem Werkkatalog ausdrücklich eine „Opera buffa in zwei Akten“, wodurch die ganze romantische Wirkungs- und Interpretations-geschichte des Stücks ad absurdum geführt wird. Es ist schließlich die Geschichte eines lä-cherlichen Versagers, die Mozart in dieser Oper vorführt, und nicht etwa eines erotisch-dämonischen Helden, wie Kierkegaard oder E.T.A. Hoffmann meinten!
Die Faksimile-Ausgabe von Mozarts außerordentlich gut erhaltenem handschriftlichem Werk-verzeichnis ist in prächtiges rotes Leinen eingebunden. Eine berührende Kopie des Originals von ca. 16 x 21 cm Größe. 44 Seiten, mit schwarzer, etwas verblichener Tinte beschrieben. Die letzten Seiten: nur noch leere Notenlinien. Der Tod hatte Mozart die Feder aus der Hand genommen. Ein zweiter Band beschreibt, transkribiert und erläutert akribisch genau das Ma-nuskript und die Geschichte seiner Überlieferung. Mozarts Witwe Constanze hatte es ihrem Verleger Johann Anton André im Jahre 1800 überlassen. Andrés sieben Erben verkauften den größten Teil der Manuskripte 1873 an die Königliche Bibliothek zu Berlin, die später auch noch den Rest bei Versteigerungen erwarb. 1935 verkaufte man das Werkverzeichnis an den österreichischen Schriftsteller Stefen Zweig. Zweigs Erben, die Stefan Zweig Collection, übergab die Autographensammlung 1956 dem British Museum, von wo aus es schließlich1986 an die British Library ging. -
Auch mehr als zweihundert Jahre nach der ersten gedruckten Ausgabe des Mozartschen Werk-katalogs durch André, die übrigens von der handschriftlichen Ausgabe abwich, erlaubt die jetzige erstmals publizierte vollständige Faksimile-Ausgabe er-hellende Einblicke in Mozarts gegen Ende seines Lebens hin immer produktiveres Schaffen von, die das nach wie vor gültige chronologisch thematische „Köchelverzeichnis“, aus dem Jahre 1862 nicht gewährt. Auch korrigiert sie Ludwig Ritter von Köchels Katalog, weil nicht nur die großen Werke der „golde-nen Jahre“ verzeichnet sind, sondern auch kleine Stücke, die Mozart auf seinen Reisen schrieb. Er hatte sein Werkverzeichnis immer bei sich. Auch gibt es Einträge für Kompositionen, die in keiner Form erhalten geblieben sind. Beispielsweise Me-nuett und Trio der sogenannten „Kleinen Nachtmusik“. Dieser fehlende zweite Satz der fünf-sätzigen Serenade wird heute meist mit einer Alternative aus einem anderen Werk ersetzt.
Erstaunlicherweise hat Mozart in seinem eigenhändigen Werkkatalog einige Werke nicht auf-geführt. Das mag daran gelegen haben, dass er nur vollendete, für gültig erachtete und öffent-lich aufgeführte Werke aufnahm, nicht aber Werke, die nur privat zur Aufführung kamen oder die er nur für Freunde geschrieben hatte. Auch bleiben einige Fragen offen hinsichtlich der Tempiangaben in den Incipits und der Datierung. Dennoch erlaubt diese jetzt erschienene, mustergültig edierte Faksimile-Ausgabe von Mozarts eigenhändigem Werkverzeichnis doch in vielen Fällen die Korrektur des Werkverständnisses und damit des heutigen Mozartbildes schlechthin. Dass letzte, unvollendete Werke, wie sein Requiem, das erst nach seinem Tod vervollständigt wurde, verständlicherweise in diesem Werkkatalog fehlen, schmälert nicht seine Bedeutung. Es ist eine der wichtigsten Mozart-Publikationen seit langem.
Rezensionen auch in SWR 2 Cluster
& Crescendo (Beilage der Deutschen Mozart Gesellschaft)