Via Appia von Paolo Rumiz

Auf dieses Buch hat man lange gewartet!

Es ist ein Amalgam aus Archäologie, Recherche, kulinarischen Erlebnissen, Landschaftsbeschreibung, Ethnologie und persönlichen Eindrücken.  Antike und Moderne durchdringen sich in ihm. So wie Wut und Staunen sich abwechseln. Ein faszinierender Reisebericht, eine gebildete, aber nie bildungshuberische Reportage einer dornenreichen, beschwer-lichen, teilweise mit GPS und historischen Karten operierenden, kriminalistisch suchenden Reise in die verlorene Geschichte der Straße und der Zeit, aber auch der ernüchternde Zustandsbericht eines gegenwärtigen "Italien der Schlitzohren."

Paolo Rumiz: Via Appia. Auf der Suche nach einer verlorenen Straße

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag.372 Seiten


Die erste antike Straße Roms als Spiegel Italiens



Sie ist die "vergessene Mutter der Straßen Europas",  "der Archetyp aller Straßen", die Via Appia, die nach ihrem Erbauer Appius Claudius Caecus benannt wurde, einer der bemerkens-wertesten Persönlichkeiten des antiken Rom. Er war ein Blinder, Militärtribun, Konsul, Interrex und was noch alles. Genau 2327 Jahre nach Baubeginn hat sich der Autor des Buches, ein weltoffener, gebildeter italienischer Patriot spanischer Abstammung, mit Freunden in wech-selnder Besetzung, immer mal stieß jemand dazu oder verabschiedete sich, auf den Weg ge-macht diese "erste Straße Roms" abzuwandern, von Rom bis Brindisi, eine Strecke von 612 Kilometern, in ihrem ganzen Verlauf, "die in den Jahrhunderten zuvor demoliert, verwahrlost und vergessen worden ist." Ein tollkühnes Unterfangen von einem neunundzwanzig tägigen Marsch, der zirka eine Million Schritte beanspruchte und immer wieder für blutige Füße, Bla-sen, Schrunden und Erschöpfung aber auch zauberhafte Erlebnisse sorgte. Die Füße sind "der beste Seismograph" für Paolo  Rumiz, denn "sie lesen dem Boden unzählige Informationen ab"  und die durchwanderten Landschaften halten eine Überraschung nach der anderen bereit.


Rumiz hat aber keineswegs nur die schönen Highlights der symbolschwangeren Route doku-mentiert (auch in einem Film und in seinem Tagebuch, das zur  Grundlage des Buches wurde), sondern" auch das Hässliche nicht unter den Tisch fallen lassen und öffentlich schmutzige Wä-sche  gewaschen." Sein Buch liefert "zum ersten Mal die komplette Vermessung der Appia. Aus Bürgerpflicht, nicht nur aus Liebe zur Literatur". Immer wieder werden auf der Suche nach der Appia, die streckenweise gar nicht mehr existiert, unter Gestrüpp oder Beton verborgen, antike Autoren, vor allem Horaz, zitiert und zu Rate gezogen. Dieser faszinierende Reisebericht ist die gebildete, aber nie bildungshuberische Reportage einer dornenreichen, beschwerlichen, teil-weise mit GPS und historischen Karten operierenden, kriminalistisch suchenden Reise in die verlorene Geschichte der Straße und der Zeit, aber auch der ernüchternde Zustandsbericht eines gegenwärtigen "Italien der Schlitzohren." Es ist die "irdischste und zugleich visionärste Reise" die der viel reisende Rumiz je unternahm, wie er bekennt. Nicht selten ist sie deprimierend, denn „vier Fünftel der Monumente auf der Appia Antica sind in privater Hand.“ Da heißt es Klinken putzen. Die Reise geht von Rom über Terracina, Formia (in der Antike „ein Hotspot  der Leidenschaften Im Mittelmeerraum“, was mit frivolen Zitaten antiker Autoren belegt wird), Caserta („nirgendwo sonst gibt es eine derartige Vermischung von Antike und Moderne“),  Benevent, Melfi und Venosa, Gravina, Altamura und Tarent bis Brindisi.


Lange Strecken sind nur noch rudimentär erhalten, allenfalls zu erahnen oder gar nicht mehr existent. „Was die Barbaren übrig ließen, zerstörten die Barberini, die Reichen aus Rom." Und so wird die Appia nicht nur als Achse beschrieben, die die italienische Geschichte der Griechen, Römer, Juden und Sarazenen, Staufer und Langobarden erzählt, sondern auch die Geschichte von Sklaven und Flüchtlingen (das Buch ist ein Plädoyer für Flüchtlinge, die seit je die italieni-sche Geschichte vor allem des Südens prägten). Rumiz beschreibt aber auch ansteckend genie-ßerisch die  unzähligen kulinarischen Segnungen dieser Reise durch verschiedene (Genuß-) Regionen Italiens: wilder Fenchel, frittierte Hopfenblüten, Bauernbrot, Weine, Artischocken, Maroni, Pasta, Knoblauch, wilder Spargel, Zichorie, Pilze, Käse, Würste, Wildschwein, Fasan, Kicher-erbsen. Der Autor weiß: Jede "Reise geht auch durch den Magen". Er bezeichnet sich selbst und die mit ihm Wandernden als „Geiseln des guten Essens". Kulinarik, Politik, Kultur, Flora und Fauna kommen gleichermaßen zu ihrem Recht. Dieses Buch ist ein Amalgam aus Archäologie, Recherche, Landschaftsbeschreibung, Ethnologie und persönlichen Eindrücken und Erlebnissen. Antike und Moderne durchdringen sich in ihm. So wie Wut und Staunen sich abwechseln.


Höhepunkt des Buches ist die Wanderung durch Apulien (und die Welt Friedrichs von Hohen-staufen). Sie wird zur leidenschaftlichen Beschreibung eines (verkommenen) Paradieses. Rumiz gesteht: "Ich kapituliere vor den apulischen Genüssen". Aber er lehnt sich auch auf gegen die Abgründe der mafiosen, nepotistischen, korrupten und chaotischen Missstände der italienischen Politik und ihrer oft skrupellosen, zynischen und geschichtsvergessenen Vernachlässigung des Südens. Die Politik "verdamme den Süden zu einer ewigen Rolle an der Peripherie", so wettert Rumiz. Deshalb sei der Süden "eine schöne Frau in Lumpen“. Nirgendwo sonst offenbare sich der Zusammenstoß von Heiligem und Profanem, Christentum und Heidentum so deutlich, so theatralisch, so sinnlich wie im Süden Italiens.


Don Raffaele, eine der vielen Reisebekanntschaften, die geschildert werden, hat den Sinn des  Buches auf den Punkt gebracht: "Diese Straße lebt dank derer, die die Erinnerung an sie be-wahren. Eure Reise ist ein politischer Akt. Indem ihr die Linie rekonstruiert, offenbart ihr die Zerstückelung des heutigen Italien." Man erfährt sehr viel über Geschichte und Gegenwart Italiens, über seine ehemalige wie heutige Kultur, über die Mentalität seiner Menschen und die seiner kulturignoranten Politiker. Eines der berührendsten, sympathischsten und engagiertesten Bücher eines Italieners über Italien seit Langem. "Man rettet das Land, indem man darüber erzählt," schreibt Rumiz. Er versucht es jedenfalls, wortgewandt, sinnlich und klug.


Man mag das mit stimmungsvollen wie bezeichnenden Photos sowie aufschlussreichen Karten bestückte Buch gar nicht aus der Hand legen, so kurzweilig und interessant ist es geschrieben. Die Lektüre mach Lust, die geschilderte Strecke gleich nachzuwandern.  



Artikel in der Mitteldeutschen Zeitung am 6. Juli 2019