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Photo: Monika Rittershaus / Staatsoper Berlin
Die Sache Makropoulos. Premiere 13. Februar 2021
Grandioses Theater, Traumspiel, Metapher
1926 wurde Leoš Janáčeks Oper "Die Sache Makropoulos" in Brünn uraufgeführt. Eine Oper ohne Arien und mit phantastischer, ja utopischer Handlung, frei nach einer Komödie von Karel
Čapek. Sie wurde zwar ein grosser Uraufführungserfolg, aber es gab vor dem zweiten Weltkrieg nur eine einzige weitere Aufführung, die Deutsche Erstaufführung unter Josef Krips 1929 in Frankfurt am Main. Erst in den Sechzigerjahren wurde das musikalische Kriminalstück über Unsterblichkeit von Sir Charles Mackerras in London wiederentdeckt. Mit Elisabeth Söderström hat er die bis heute unübertroffene Schallplatteneinspielung vorgelegt. Durch die Inszenierung Nikolaus Lehnhoffs vom Glyndebourne Festival 1995 mit Anja Silja in der Hauptpartie der Emilia Marty trat das Stück auf seinen Gastspielen quer durch Europa einen triumphalen Siegeszug an. Zuletzt hatte Dmitri Tcherniakov, gemeinsam mit dem tschechischen Dirigenten Jakub Hr?ša und mit der außergewöhnlichen Sängerin Evelyn Herlitzius 2019 eine zurecht gefeierte Inszenierung des Stücks präsentiert, das es ja mehr als alle andern Werke Janáčeks außerhalb des Heimatlandes schwer hat auf den Bühnen.
Nun hat Claus Guth, gemeinsam mit seinem großartigen Bühnenbildner Étienne Pluss, mit der fabelhaften Ursula Kudrna, die für die stilvollen Kostüme zuständig ist, und dem Lichtzauberer Sebastian Alphons eine Inszenierung des erschütternden Stücks verantwortet, die einem fast die Sprache verschlägt.
Er hat die vorletzte Oper Janáčeks mit ihrem Thema der menschlichen Sehnsucht nach Unsterblichkeit und einer durch die Jahrhunderte hindurch lebenden, nicht sterben wollenden Frau als Sängerin in immer neuen Gestalten als theatralische Mischung aus Traum, realistischem Anwaltskanzleistück, voyeuristischer Theater-Hinterbühnenkomödie und Hotelfoyersfarce mit tragischem Ende angelegt. Balletttänzer (Choreographie Sommer Ulrickson) spielen mal Kellnerballett, Anwaltsgehilfen, Theaterdiener im Frack, die mit zeitlupenhaft erstarrenden Posen, rhythmischen Zuckungen der Produktion etwas Groteskes beisteuern. Die psychologische Personenführung Guths ist beeindruckend. Er versteht es, die komplizierte Handlung und die Seelenlagen der dramatischen Personen zu veranschaulichen. Er reichert seine Inszenierung mit symbolischen, ja metaphorischen Vorgängen ab, die ihr etwas Surreales geben. Beispielsweise lässt er Emilia Marty (an ihr wurde vor über 300 Jahren mit einem Unsterblichkeitselixier ein Menschenexperiment durchgeführt, das ihr ein unnatürlich langes Leben schenkte) mal als alte Frau mit Glatze, mal als Blonder Engel der Janáček-Zeit mit fröstelndem Sexappeal, mal als Kind (das als Lebendes Bild der berühmten Infantin von Velazquez auf- und abtritt). Auch eine alte Frau am Stock latscht immer wieder durchs Bild. Einmal lässt Guth diese drei Lebensstufen Jugend, Blütezeit und Alter als Tableau opernhaft sinnbildlich zusammentreten. Ein wunderbares Bild. Die ebenfalls ins Bild tretende Cho Cho San aus „Madama Butterfly“ ist sowohl verblüffende Bühnenverkörperung der Sängerin Emilia Marty als auch Reverenz an
Janáčeks viel bewunderte Puccini-Figur.
Kurz vor dem Tod Emilias (sie schleppt sich zusammenbrechend im rosa Unterrock, nahezu kahlhäuptig, sichtlich gealtert dem geöffneten Fenster entgegen). Zuvor hat sie Krista das endlich wieder gefundene Rezept des Unsterblichkeitselixiers geschenkt, das diese sofort verbrennt. Zeitgleich verübt Cho Co San im Hotelfahrstuhl Harakiri. Ein ins Endlose verlängertes Leben hat keinen Sinn.
Diese Erkenntnis Emilia Martys zeigt Guth in hin und her fahrenden Räumen. Realität und Traum, Konkrete Örtlichkeiten und ortloser weißer Seelenraum mit verschwimmenden Konturen im Nebel wechseln sich ab. Es ist eine suggestive, einleuchtend kluge und überzeugende Inszenierung des Erbschaftsstreits- und Kriminalstücks, einer Metapher mit einer Sängerin, die eine Sängerin spielt. Das Premierenpublikum feierte die Produktion frenetisch, zumal die Sängerbesetzung kam besser hätte sein können: Marlis Petersen gibt ihr Rollendebüt als Emilia Marty. Eine geradezu paradebeispielhafte, stimmlich wie schauspielerische Verkörperung der magisch anziehenden wie abstoßend kalten Mischung aus Femme fatale, Dame, besoffene Hure, eitler Primadonna, coolem Vamp und zartfühlender Frau. Die Petersen hat nicht nur eine „schöne“ Stimme, sie ist auch ist eine grandiose Darstellerin der lebensüberdrüssigen „Unterkühlten“, wie
Janáček seine Titelfigur nannte. Aber auch Ludovit Ludha (Albert Gregor), Peter Hoare (Vítek), die außerordentlich wohltönende polnische Mezzosopranistin Natalia Skrycka (Krista), Bo Skovhus (Jaroslav Prus), Spencer Britten (Janek), Jan Martiník (Dr. Kolenatý), Žilvinas Miškinis (Maschinist), Adriane Queiroz (Putzfrau), Graham Clark (Hauk-Šendorf) und Anna Kissjudit (Kammerzofe) lassen keinen Wunsch offen.
Ein Wermutstropfen der insgesamt phänomenalen Aufführung ist Sir Simon Rattles unsensible Lesart der Partitur mit der bestens disponierten Staatskapelle Berlin. Das war doch, mit Verlaub gesagt, ein Janacek im Hochformat, viel zu laut, viel zu dick aufgetragen Farbklängen wie Emotionen, zu sehr vom rhythmischen Puls eine Strawinsky und einem romantischen Verständnis à la Puccini beseelt. Da hat zuletzt Jakub Hrůša in Zürich doch eine wesentlich differenziertere, subtilere Interpretation der grandiosen Musik Janáčeks dirigiert. Das war eine Offenbarung. Rattles Lesart hingegen war grell, lärmend und plakativ. Er agierte atemlos am Pult, immer mit Volldampf. Das strafte nicht nur die Poesie des Werks, auch die Poesie der Inszenierung Guths Lügen, schade.
Dennoch: Ein großer Abend!