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Die „Opera bouffe“ im "emanzipatorischen Kontext“ der Folgen der Französischen Revolution: „Vermenschlichung des Mythos, Entkleidung des Autoritären, Durchbrechen von Denkverboten, Infragestellung des Gegebenen“
Die Offenbachiade:
Lehrbuch und Liebeserklärung zugleich: "Offenbach macht glücklich."
Weil es zu den Ärgernissen der Offenbach-Rezension gehört, dass Offenbachs un-terschiedliche Werktypen bis heute immer wieder über einen Kamm geschoren werden, hat sich der Offenbachkenner Peter Hawig entschlossen, in der Reihe der Jacques-Offenbach-Studien des Musikverlags Burkhard Muth einen opulenten Band über die fälschlicherweise häufig in einen Topf mit der Operette geworfene „Opera bouffe“, die eigentliche Gattung der „Offenbachiade“ (Karl Kraus) zu verfassen.
Wegmarken des Genres werden beschrieben, textliche und musikalische Parameter der Offenbachiade sowie ihre musikdramatische Machart werden konkret analysiert, 13 ausführliche Werkmonographien von Offenbachiaden, aber auch Erinnerungsmo-tivik derselben in der Großen Romantischen Oper ‚Die Rheinnixen‘ werden einbe-zogen. Schließlich werden auch einige Post-Offenbachiaden behandelt.
Hawig stellt die Offenbachaide „in den emanzipatorischen Kontext“ der Folgen der Französischen Revolution: „Vermenschlichung des Mythos, Entkleidung des Auto-ritären, Durchbrechen von Denkverboten, Infragestellung des Gegebenen“ An den Offenbachiaden „exemplifizieren sich innergesellschaftliche Konfliktlinien“. Ko-nstitutiv für die Gattung sei der „Begriff der Verkleidung und Maskierung“. Bei der Stoffauswahl habe sich Offenbach vor allem aus der „Reservatenkammer der Büh-nentradition“ bedient. Anhand typischer Werke zeigt Hawig es präzise auf: Mytho-logie(Orpheus, Helena), Märchen (Blaubart), Legende (Genoveva), Schauerdrama (Seufzerbrücke)und Räuberoper (Banditen).
Wesentlich für die Offenbachaide ist „das Verspielte, … das Jonglieren mit Zeiten und Räumen, Masken und Artefakten.“ Offenbachs Librettisten (Scribe, Meilhac und Halévy) schrieben (unter wesentlicher Mitwirkung Offenbachs) Stücke, die geprägt sind „durch einen kritischen, nervösen Zeitgeist, den respektlosen, autori-tätskritischen Umgangston, den mehrschichtigen Anspielungsreichtum, der dem des Musikers kongenial zuarbeitet.“
Parodie, Spiegelung von „Mustern und Bausteinen, Klischees, Stereotypen und Vor-prägungen“ kennzeichnen die doppelzüngig Musik der Offenbachiade so wie die „Verbindung von gesungenem Wort mit der Tanzgebärde“, worauf schon Paul Becker 1909 hinwies, aber auch ein durchsichtiger Orchestersatz , gestützt auf Strei-cher und solistisch geführte Holzbläser… Es ist die Satzkunst des 18. Jahrhun-derts und dessen graziöser Esprit, die nicht von ungefähr an Mozart und Cimarosa“ erin-nern. Hawig spricht vom „Komponieren neuer Mosaike aus ‚vokabulärer Musik‘ und ‚musikalischen Umgangswörtern‘, eine Reaktion auf die Infragestellung von Echtheit und Identität“.
Aber der Autor weiß sehr woh, dass es neben dem spöttischen auch einen lyrischen Offenbach gibt. Lebensfreude und Lyrik gehören zu Offenbach wie die Kritik an Politik und Gesellschaft. „Der andere, der lyrische Offenbach gilt den kleinen Leu-ten, den Grenzsituationen von Leben und Tod, dem Schmerz und dem Verlust der aufrichtigen Liebe, der Scham und der Sehnsucht. Er steht oft unmittelbar neben dem spättisch dionysischen Offenbach.“
Zurecht betont Hawig, dass insbesondere die Wiener Operette sich durch den „Rück-zug ins Kleinkarierte und ‚Lebkuchenherzhafte‘ wesentlich von der Offenbachaide unterscheidet und dadurch mehr Breitenwirkung entfalten konnte als das Gesell-schaftskritische, das sie ausmacht. Anders als der „Operettenpapst“ Volker Klotz, der alles, was „gegen das ‚Verhockte‘ und Selbstzufriedene , das Gewalttätige, Bornierte und rein Geschäftsmäßige anrennt“ und damit jede gute Operette als Offenbachiade versteht, definiert Hawig die Offenbachsche Gattung sehr viel ge-nauer als „Mischung aus Oppositionsgeist, der aber nie die Grenze des Dazugehö-rens sprengte“ und sich an „ein mittleres und ein Reiches Publikum und damit jene Gruppen, die von der Wirtschaftspolitik des Kaisers profitierte und die Basis für das moderne Frankreichs legten.“
Auch die Folgen (Rezeption und Nachleben) der Offenbachiade ist Thema für Ha-wig. Er umreißt die vor allem Europa und Amerika betreffende „Weltherrschaft der Offenbachiade“ zu Offenbachs Lebzeiten, die zuletzt Laurence Senelick in seiner Studie „Jacques Offenbach and the Making of Modern Culture“ brilliant umriss. Hawig ergänzt: Die Offenbachiade ging in die Operettengeschichte ein „als eine Art Sauerteig“, der – wenn auch nicht überall - eine „Sentimentalisierung wie in Wien verhinderte.“
Hawig spricht sich übrigens dezidiert gegen zwei Mühlsteine aus, „die die Offen-bach-Rezeption belasteten: die Verbindung zur gemütlich klischeebesetzten Wiener Operette... erst recht der des 20. Jahrhunderts)... und „die Verbindung zur Welt des Moulin-Rouge und der Montmartre-Cabarets, des ‚French-Cancan‘... und der von Mistinguett und Max Dearly getanzten ‚Valse chaloupée‘. Derlei Rezeptionsmuster gehen fehl, erweisen sich aber gleichwohl als sehr zählebig.“
Hawig hat ein konkurrenzloses Lehrbuch über die Offenbachiade vorgelegt, das eine Lücke schließt, denn die Gattung als solche ist bisher „kein Thema der Forschungsli-teratur gewesen“. Ein zentrales Diktum des Buches lautet „Offenbach ist Musikdra-matiker“. Daher spricht sich der Autor entschieden gegen jede Art von textlicher wie musikalischer Verhunzung aus. Auch gegen Bearbeitungen und Aktualisierung-en, denn: „der Anspielungs- und Parodiecharakter Offenbachs ist fast immer ein-leuchtend und erfahrbar, ohne dass der Zuschauer ihn an einer wiederzuerkennen-den Einzelheit verifizieren müsste. ...Alle vorschnelle ‚‘réécriture‘ mündet entweder in Plattheiten oder intellektualistische Spitzfindigkeit – oder war von allem Anfang an nie etwas anderes als das Bedürfnis der Bearbeiter, Tantiemen zu kassieren.“
Angefügt sind u.a. aufschlussreiche Kapitel über Offenbachs Orchesterbesetzungen, Politik, Krieg und Geld, Frauen, Rausch, Erotik (jenseits der Vulgarität, die Offen-bach auf seiner Bühne nicht wollte!) sowie ein Serviceteil mit Daten und Fakten „zum raschen Gebrauch für die Bühnenpraxis“ und ein Literaturverzeichnis.
Das Buch ist sehr klug und sehr informativ, aber es ist auch ein Liebesbekenntnis: „Denn Offenbach macht glücklich“.
Verschiedene Besprechungen auch in "Das Orchester", NMZ, SWR ...