Musik-Theater & mehr
Der Dirigent Arthur Nikisch. Anti-Bülow und
Pionier seines Berufsstandes
Er war nach Hans von Bow der wohl bedeutendste Orchesterleiter der frühen deutschen Dirigentengeschichte: Arthur Nikisch, dessen hundertstem Geburtstag am 23. Januar 2022 gedacht wurde. Ganz sicher war er der einflussreichte Dirigent seiner Generation, eine unumstößliche Autorität und ein charismatischer Zauberer. Er war, anders als Bülow, kein intellektueller Exzentriker. Verstandesorientiertes Musizieren war ihm fremd. Schon gar nicht war Nikisch ein Diktator und Zuchtmeister wie Arturo Toscanini, sondern ein durch Überzeugung überredendes musikalisches Naturtalent, das kein Orchester zurechtbiegen oder vergewaltigen wollte. Keinem Orchester zwang er seine Interpretation auf.
Schon nach seinem ersten Konzert schrieb der Musikkritiker und -Schriftsteller Adolf Weissmann: „Der hier ist nicht vom Stamme der Bülows. Er wird nicht eifernd, hartnäckig, nervös für Grundsätze agitieren und als sarkastischer Sprecher… eine Lektion erteilen.“ Nikisch dozierte nicht, unterbrach Proben nur selten und hielt keine Vorträge, weshalb ihn die Musiker liebten. Er war ein freundlicher, etwas dandyhafter, vornehmer und ausgleichender kleiner Mann, hatte ein poetisches, gewinnendes Wesen und gab knappe Anweisungen mit oft bildhaften Anspielungen und Vergleichen.
Exzesse auf dem Podium und Künstlerallüren waren ihm fremd. Er war alles andere als ein eitler Pultstar oder exaltierter Taktstockvirtuose. Seine Kraft lag im Einfühlungsvermögen, in der Ruhe suggestiver wie kontrollierter Schlagtechnik und sparsamer Gesten. Er war ein intuitiver Dirigent und bekannte sich dazu: „Man fragt mich, wie ich mein Fühlen meinen Musikern mitteile; ich tue es einfach, ohne dass ich es weiß, wie.“ Nikisch verzauberte Musiker wie Publikum. Er achtete die Musiker des Orchesters und versuchte stets, gemeinsam mit ihnen und ihren Fähigkeiten ein Werk auszuloten und wiederzugeben, mit Seele und Geist, Technik und Emotion, aber auch mit improvisatorischem Talent bei flexiblen, oft langsamen Tempi. „Der moderne Dirigent ist ein Neuschöpfer“, lautete sein Credo, weshalb seine Interpretationen ein und desselben Stück sich beträchtlich unterscheiden konnten.
Zeitgenossen bezeichneten seine Wirkung nicht selten als geradezu hypnotisch, sein „umschmeichelnder Klang „sei einzigartig gewesen, sagte sein Kollege Hermann Scherchen später über ihn, Tschaikowsky verglich ihn gar mit einem Magier. Der Dirigent Erich Kleiber berichtete nach einer „Tristan“-Probe: „Was er an Ekstase, an Leidenschaftlichkeit und Klangschönheit in einer einzigen Orchesterprobe hervorzauberte, war mir und allen Zuhörern unfassbar. … Geradezu unheimlich waren seine gewaltigen Crescendi; wo andere mit beiden Armen turnen mussten, hob Nikisch die linke Hand langsam hoch und das Orchester brauste wie ein Meer auf.“
Geboren wurde Arthur Nikisch am 12. Oktober 1855 im ungarischen Lébényi Szent Miklós, früh fiel im Elternhaus (in dem Kammermusik gespielt wurde) sein außergewöhnliches musikalisches Talent auf. Sein Vater immatrikulierte ihn am Wiener Konservatorium, das er mühelos und schneller als üblich absolvierte. Schon mit 18 trat er als Geiger ins Wiener Hofopernorchester ein, wo er das ganze Opernrepertoire kennenlernte. Die Romantik, insbesondere Wagner, Liszt, Rubinstein und Brahms waren seine Idole, als Musiker wie als Dirigenten. Nach vier Jahren wurde er Chorleiter am Leipziger Stadttheater, schließlich zum Ersten Kapellmeister des Hauses. Nikisch arbeitete ganz entschieden dem Leipziger Konservatismus entgegen und machte im Dezember 1884 mit der Uraufführung von Bruckers siebter Symphonie in Gewandhaus weithin auf sich Aufmerksam.1893 wurde er Operndirektor in Budapest und gab Konzerte in Boston, bevor er 1895 Kapellmeister am traditionsreichen Leipziger Gewandhaus und Leiter des Berliner Philharmonischen Orchesters wurde. Beide Positionen behielt er zeitlebens inne. Die Berliner, an Bülow gewöhnt, brauchten eine Weile, sich in den Nikisch-Stil einzuhören. Und doch gewannen sie unter ihm erst Weltgeltung.
Nikisch wurde Gastdirigent des London Symphony Orchestra und gab zahlreiche internationale Konzertreisen. Er spielte erste sinfonische Werke (nicht zuletzt Beethovens Fünfte) auf das neue Medium Schallplatte ein. Sein Dirigierstil (seine ruhige und deutliche Schlagtechnik, seien Konzentration auf die Hände, sein Auswendigdirigieren mit dem Blick ins Orchester) wurde Vorbild. Er engagierte sich aber auch kulturpolitisch, nicht zuletzt mit Dirigaten von Volkskonzerten des Arbeiterbildungsinstituts. Er gab seinem Beruf in verschiedenen Bereichen Impulse für die Zukunft. Zwar pflegte er eher das klassisch-romantische als das zeitgenössische Repertoire, was bis heute gängige Praxis des Musikbetriebs ist. Beethoven, Schumann, Brahms, Bruckner, Tschaikowsky waren seine Favoriten. Seine Wagner-Interpretationen, insbesondere die des „Tristan“ setzten Maßstäbe. Man darf ihn als einen Konservativen, einen Romantiker nennen. Und doch war Nikisch ein Pionier seines Berufsstandes.
Artikel auch in Oper & Tanz