1. Joan Sutherland Box 33 CDs Decca



La Stupenda

Joan Sutherland. The Complete Decca Recordings
Recitals and Oratorios
Limited Edition 37 CDs, Decca 483 4356


„Neun Monate bevor die Karriere der Koloraturen singenden Maria Callas zu Ende ging, ihre letzte Lucia hat sie am 8.November 1959 gesungen und die Rolle wegen eines verpatzten ‚es‘ in alto aufgegeben, sang die nur drei Jahre jüngere Joan Sutherland (* 7.11. I926) an der Londoner Covent Garden Opera zum ersten Mal die Donizetti-Heroine (26. Februar I959): in einer Inszenierung von Franco Zeffirelli und unter der Leitung von Tullio Serafin, der zehn Jahre zuvor Maria Callas en Weg gewiesen hatte. Nach der Wahnsinns-Szene, so heißt es, war sie ein Star“. So schreibt Jürgen Kesting in seinem opulenten Werk „Die großen Sänger“. Ihre Fans nannten sie seither „La Stupenda“, die Wunderbare, die australische Sängerin Joan Sutherland. Luciano Pavarotti nannte sie die größte Koloratursopranistin aller Zeiten“.


La Stupenda war tatsächlich eine stupende Sängerin, denn sie ist Anfang der Fünfzigerjahre aus dem Nichts aufgetaucht und wurde zu einem der am Hellsten strahlenden Sterne am Opernhimmel. Aus Australien – wo sie ausgebildet wurde- kam sie nach London und hat von London aus eine Weltkarriere gestartet. Obwohl sie damals noch eine ziemlich unbeholfene und auch alles andere als schöne Frau war. Aber sie hatte eine außergewöhnlich schöne Stimme, eine schier grenzenlose Höhe, enorme Kraft und eine Koloraturengeläufigkeit, die konkurrenzlos war, eine wahre Virtuosa. Der alte weise Dirigent Tulio Serafin, der auch der Entdecker von Maria Callas war, hat die enorme Begabung der Sutherland erkannt und hat sie, gemeinsam mit dem Regisseur Franco Zeffireli sozusagen erweckt in einer legendären Einstudierung der „Lucia di Lammermoor“ an Covent Garden 1959. Das schlug in der Opernwelt wie ein Komet ein. Joan Sutherland machte von da an eine der gloriosesten Sänger- Karrieren aller Zeiten. Sie hat seither an allen großen Opernhäusern der Welt gesungen, es liegen zahllose Einspielungen auf CD vor. Erst 1990 trat sie von der Bühne ab.


Joan Sutherland trat meist gemeinsam mit ihrem Mann, dem Dirigenten Richard Bonynge auf. Ihn hatte sie schon in Australien kennen gelernt. Er war sicherlich der stärkste Motor und Mentor ihrer Fähigkeiten und ihrer Karriere. Er hatte wie kein anderer ihre stimmlichen Möglichkeiten erkannt und weiterentwickelt, vor allem ihre bis in stratosphärische Höhen reichende Stimme. Er wusste, sie besaß eine bombensichere Technik, eine strapazierfähige Physis und sie war sehr gelehrig. Er wollte aus ihr eine zweite Callas machen, gerade was das Repertoire angeht. Und ihm ist es sicher zu verdanken, dass aus dem Aschenputtel, das eigentlich Mezzo- und Wagnersängerin werden wollte, eine der bedeutendsten Belcantosängerinnen aller Zeiten wurde. Er war übrigens wirklich ein sehr guter Dirigent und Pianist! Er hat immer das passende, zum Teil damals absolut neue und vergessene Repertoire für sie aufgespürt, ausgewählt und mit ihr einstudiert.


Es war ein breites Repertoire, das von der Barockoper – vor allem Händel – über Rossini, Bellini und Donizetti bis zur französischen Oper des 19. Jahrhunderts, zu Massenet, zu Gounod und darüberhinaus reichte. Die Sutherland hat der Welt vorexerziert, wie man Koloraturen singt und was Verzierungstechnik ist, zu einer Zeit, als es vergessen war, einer Zeit vor dem Bewusstsein von „historischer Aufführungspraxis“. Und die Sutherland hat, gemeinsam mit ihrem Mann Opern wieder entdeckt, die ohne sie wahrscheinlich weiterhin im Schatz- und Beinhaus der Operngeschichte geschlummert hätten, Belcanto- und französische Partien, die lange Zeit nur sie mit ihrer sensationellen Koloraturentechnik überhaupt singen konnte. Aber sie hat immer wieder auch Ausflüge in ganz entlegene Bereiche gewagt, und ihr Publikum damit überrascht, sei es ins Hochdramatische einer Turandot oder ins Komische der Operette. Die Sutherland war immer eine sehr humorvolle Frau.


Das erste Set der umfangreichen Sutherland-Edition umfasst die kompletten Recitals und Oratorienaufnahmen für Decca, angefangen von dem 1959 in Paris aufgenommenen Opernrecital mit Nello Santi über das wahrhaft legendäre Album „The Art of the Prima Donna“ bis hin zum berühmten New-York-Auftritt „Live from Lincoln Center“ (zusammen mit Marilyn Horne und Luciano Pavarotti). Dazu gehören auch einige ihrer frühesten Aufnahmen, von denen vier, die 1958 mit Richard Bonynge am Klavier aufgenommen wurden, zum ersten Mal bei Decca veröffentlicht werden, sowie eine Reihe französischer Lieder, die vor einigen Jahren am Ende der Aufnahmebänder für die französische Opernariensammlung entdeckt wurden. Sutherland wurde auch für die Aufnahmen von Beethovens neunter Symphonie unter der Leitung von Ernest Ansermet und Hans Schmidt-Isserstedt auserkoren, die ebenso enthalten sind wie zwei Versionen von Händels „Messiah“ (Boult, Bonynge) sowie die überwältigende Solti-Aufnahme von Verdis Requiem mit Marilyn Horne, Luciano Pavarotti und Martti Talvela. Zu den Raritäten zählt eine reine, geradezu frappierende Wagner-Scheibe (Arien und Gesänge aus „Rienzi“, Der fliegende Holländer“, „Tannhäuer“, Lohengrin“, „Walküre“, „Meistersinger“ und „Tristan“, ergänzt durch ihren Auftritt als Waldvogel in Soltis „Ring“. Aber auch Rossini und Offenbach singt sie, Verdi und Bizet, Arthur Bliss' „A Song of Welcome“ (aus dem Jahr 1954 – ihre allererste Studioaufnahme) und Bachs Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“. Und immer wieder Belcanto und Musical bzw. Operette. Für ihre letzte Decca-Aufnahme tat sich Sutherland mit ihrem australischen Landsmann, dem Hornisten Barry Tuckwell, für eine CD mit romantischen Trios zusammen, bei der ihr Ehemann Richard Bonynge am Klavier saß. 2010 starb Joan Sutherland, 83-jährig in ihrem Haus in Genf nach langer Krankheit.


Die Jahrhundertsängerin hat schon mit dieser ersten Box der geplanten, umfangreichen Sutherland-Edition eine wahre Schatzkiste hinterlassen. Das Booklet ist sehr informativ. Die 33 CDs sind allerdings nur ein Teil ihres offiziellen wie inoffiziellen Schallplattenvermächtnisses. Man darf auf mehr hoffen.