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Giacomo Casanova. Eine Erinnerung an seinen 300sten Geburtstag
Vor 300 Jahren wurde Giacomo Casanova in Venedig geboren, am 2. April 1725. Da seine Eltern Schauspieler waren, wurde der kleine Giacomo von seiner Großmutter erzogen. Von Kindheit an galt sein Interesse der Musik und der Literatur. Mit 17 Jahren schloss er an der Universität Padua erfolgreich ein Jurastudium ab und ging nach Rom. Er verdingte sic in Diensten des Kardinals Aquaviva. Dort strebte er die Laufbahn eines Geistlichen an. Aufgrund seiner gesteigerten Neigungen zum anderen Geschlecht musste Casanova den Dienst jedoch bald wieder aufgeben. Mit 18 Jahren ging er deshalb als Soldat nach Konstantinopel. Zwei Jahre später kehrte er nach Venedig zurück und ergriff dort den wenig renommierlichen Beruf des Geigers. Mit 21 Jahren änderte sich sein Leben abrupt: Casanova wurde von einem hochrangigen venezianischen Adeligen adoptiert und kam dadurch zu Geld. Er bereiste Italien, Frankreich, Deutschland und Wien. Aber immer zog es ihn zurück nach Venedig. Das sollte ihm später zum Verhängnis werden, als er von den venezianischen Inquisitoren festgenommen und anschließend in den Bleikammern von Venedig gefangen gehalten wurde. Die Bleikammern waren ein Staatsgefängnis, aus dem bis dahin niemand entflohen war. Casanova gelang nach 15 Monaten die Flucht nach Paris. Dort wurde er Millionär. Da er jedoch einen sehr aufwendigen Lebensstil führte, verlebte er das Geld schnell. In den folgenden Jahren führte Casanova ein stürmisches Leben, in dem es weder an Frauen noch an Duellen und Gefängnisaufenthalten mangelte.
Da er an Venedig hing, bat er die venezianischen Inquisitoren um Gnade. Doch erst nach neunzehn Jahren einer expansiven Reisexistenz voller Abenteuer kehrte Casanova endlich nach Venedig zurück (1774). Er überwarf sich allerdings mit dem dortigen Adel und zog 1783 freiwillig nach Wien. In Wien trat er in den Dienst des venezianischen Botschafters. Der Tod des Botschafters bewegte ihn dazu, sich um einen Posten in Berlin zu bewerben. Friedrich II. bot ihm die Stelle eines Erziehers in einer Kadettenanstalt an, die er ablehnte. Auf dem Weg dorthin traf er in Teplice (Teplitz) den Grafen Waldstein (Josef Karl Emanuel), der ihm die Stelle des Bibliothekars in seiner Schlossbibliothek anbot. Casanova ging auf das Angebot ein und Dux sollte schließlich 1798 (er starb am 4. Juni) der Ort seiner letzten Ruhestätte werden.
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Über kaum eine Gestalt der neueren Kulturgeschichte sind mehr falsche Vorurteile in Umlauf als über Giacomo Casanova, den Liebes- und Lebenskünstler, Schwarzmagier, Freimaurer, schillernden Diplomaten, Spieler, Geldverschwender und was noch alles. Der bloße Name dieses welterfahrenen, polyglotten Lebemannes ist zum Symbol geronnen, zum Inbegriff donjuanesker Lebensart, zum Synonym draufgängerischer Luxusexistenz und erotischen Abenteurertums. Der Mythos überlagert nicht selten die historische Wirklichkeit. Dass der bürgerliche Giacomo Casanova, der sich selbst zum Chevalier de Saingalt adelte, allerdings nicht nur der von Affaire zu Affaire eilende Galan, sondern auch ein ernstzunehmender Philologe, fast ein Gelehrter, jedenfalls ein professioneller Schriftsteller war, ganz zu schweigen vom Doktortitel des Rechts, den er schon in jungen Jahren erwarb, ist die andere Hälfte jener halben Wahrheit, die das landläufige Bild Casanovas noch immer bestimmt.
Dabei offenbart schon die vielbändige Geschichte seines Lebens Casanova als Schmetterling, der in den konträren Farben von Esprit und Amour schillert. Er offenbart sich darin als ein zwittriges Geschöpf aus erinnertem Leben und literarischer Bibliothekarsphantasie. Die "Histoire de ma vie" des Giacomo Casanovas ist gerade deshalb ein einzigartiges Sitten- Kultur- und Geistespanorama jener letzten Epoche des Ancien Régime kurz vor und während der Französischen Revolution geworden. Casanova beherrschte nicht nur Italienisch und Französisch, sondern auch die alten Sprachen Latein und Griechisch perfekt. Und er war stolz auf seine an der antiken Rhetorik und Philosophie geschulte Bildung, mit der er in Gesellschaft zu glänzen verstand, eine Bildung, die seinen Lebensbericht würzt und die ihn immer wieder veranlasste und befähigte, philologische und philosophische Streitschriften und Essays zu veröffentlichen, historische Abhandlungen, naturwissenschaftliche Aufsätze und schließlich einen fünfbändigen utopischen Roman. Last not least verschaffte sie ihm, als das Alter mit seinen Gebrechen seinem gesellschaftlichen Paradiesvogeldasein und erotischen Abenteurertum ein Ende setzte, jene letzte Gnadenstellung als Bibliothekar des Grafen Waldstein im böhmischen Schloss Dux, die ihm immerhin die Arbeit der Erinnerung, der Fixierung gelebten Lebens und das fleißige Anschreiben gegen den Tod ermöglichte.
Dass Casanova aber schon in seiner Blütezeit ein "homme de lettres" war, der sich leidenschaftlich mit Literatur und Philosophie der Gegenwart auseinandersetzte, belegen gerade jene Texte aus seinem handschriftlichen Nachlass, die er in den Jahren zwischen der Flucht aus den Bleikammern Venedigs und der Bilbliothekarszeit in Böhmen geschrieben hat. Fünf dieser zeittypischen wie zeitkritischen, halb literarisch-philologischen, halb philosophischen Schriften sind von dem italienischen Casanova-Forscher Federico Di Trocchio wiederentdeckt, von Martina Kempter übersetzt und in der Reihe Edition Pandora des Campus Verlags veröffentlicht worden, mit einer sehr klugen und anregenden Einleitung herausgegeben von dem Berliner Komparatisten Lothar Müller. Fast alle dieser Essays und Dialoge kreisen um das gewiss unappetitliche Thema Selbstmord. Aber alle sprechen sich direkt oder indirekt dagegen aus, auch gegen alle Arten modischer Melancholie und Todessehnsucht. Diese Schriften sind nicht nur beredte Dokumente eines giftigen Anti-Rousseauismus, sondern vor allem aber konzentrierter literarischer Ausdruck der Lebensphilosophie Casanovas, die den gelebten Augenblick beschwor, den Genuss der Sinne und der körperlichen Liebe, kurz: dem Glücksideal des Rokoko huldigte, eines Zeitalters, das mit Giacomo Casanova unwiderruflich zuende ging. Keiner hat das besser gewusst als Rousseau. Die engagierteste der fünf Schriften der jüngsten Casanova-Publikation ist jene über die "Philosphie und die Philosophen": ein flammendes Plädoyer für Bildung und aufgeklärte Politik, eine Referenz zugleich an Friedrich den Großen, der, - Ironie der Geschichte -, ausgerechnet dem alten Casanova die Stelle eines Ausbilders einer pommerschen Kadettenanstalt anbot, die dieser dankend ablehnte. Nur ein einziger der fünf Texte war jemals gedruckt worden. Nur noch etwa zehn Exemplare des Erstdrucks finden sich verstreut über Europas alte Bibliotheken. Insofern ist die von Lothar Müller herausgegebene Textsammlung eine wirkliche Fundgrube. Aber sie ist mehr: sie ist Ergänzung und Korrektiv eines verzerrten und reduzierten Casanova-Bildes.
Giacomo Casanova: Über den Selbstmord und die Philosophen.
Mit einem Nachwort von Lother Müller
Aus dem Italienischen von Martina Kempter
Edition Pandora, Band 21 - Campus Verlag 1994, 211 S.