Glitter and be gay

Die Operette ist besser als ihr Ruf,
ist zweifellos Vorreiter der sexuellen Befreiung. Aber ist sie queer?


Die Rolle der Homosexuellen in Oper, Musical, Film und Literatur ist spätestens seit Tom Hughes Büchern „Glitter and be gay“ und „The Naked Truck Shop - Growing up gay in the 1950s“ in viele Richtungen untersucht worden, doch ausgerechnet die Gattung Operette wurde ausgespart. Dabei agieren überdurchschnittlich viele Homosexuelle (Fans wie Fachleute) vor, hinter und auf der Operettenbühne.


2007 erschien die aufsehenerregende Erstausgabe des Buches (mit dem gleichen Bernstein-Song-Titel) «Glitter & Be Gay» von Kevin Clarke. Das nach Angaben des Verlages Männerschwarm «weltweit erste Buch, das sich mit der homosexuellen Vorgeschichte des Operetten-Genres befasste». Wobei man zur gewagten Hypothese des Buches, Operette und Homosexualität hätten ursprünglich und grundsätzlich miteinander zu tun, kontroverser Meinung sein kann. Nach 18 Jahren liegt nun eine komplett überarbeitete, aktualisierte Ausgabe vor: «Glitter & Be Gay Reloaded: Die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer». Der ursprüngliche Untertitel lautete „Die freche Originaloperette und ihre schwulen Verehrer“ – Der neue Untertitel setzt einen bewusst neuen Akzent. Es ist ja auch viel passiert in den 18 Jahren seit der Erstausgabe.


Es habe inzwischen eine queere Operetteninterpretation gegeben, dazu zählt Clarke wesentlich „die zehn Jahre Intendanz von Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin“ mit Ausgrabungen in den Inszenierungen Koskys sowie anderer Regisseure, „Die Uraufführung der Der Operette für zwei schwule Tenöre von Florian Ludewig und Johannes Kram, das Sci-Fi-Singspiel „Planet Egalia über trans Identitäten im Weltall, aber auch das queerfeministische Oper*ettenkollektiv tutti d’amore und Produktionen wie Magna Mater, als Mash-up von Franz von Suppés Die schöne Galathée und Paul Linckes Lysistrata“.


Barrie Kosky darf fast als Ausgangspunkt und Kronzeuge Clarkes und seiner „Reloaded“-Version des Buches gelten. Kosky hat an der Komischen Oper Berlin queere Lesarten von Werken wie „Ball im Savoy“, „Eine Frau, die weiß, was sie will“ oder „die Perlen der Cleopatra“ auf die Bühne und ins Fernsehen gebracht und viel Beachtung bei Publikum und Presse gefunden, aber auch Ablehnung, da i Manchem und Mancher das nach immer gleichem Strickmuster inszenierte schwule Operettentheater Koskys langsam auf die Nerven geht.


Offizielle Toleranz gegenüber offen schwulen Operettenliebhabern wie -Machern, haben die Situation verändert. Zwar spielt Homosexualität nach wie vor keine große Rolle in der Musikwissenschaft, doch es sei “unendlich viel passiert“, nämlich nichts weniger als einen queere Operettenrevolution“, so ist Clarke überzeugt. Er erklärt: «Das Originalbuch ist von 2007. Als der Verlag anfragte, ob wir das lange vergriffene Buch, das es nur noch als eBook gibt, nachdrucken wollen, hatte ich gesagt, eine komplett überarbeitete Ausgabe fände ich besser, weil seit 2007 so unendlich viel passiert und weil es heute so viele Forscher in dem Bereich gibt, die Neues zu erzählen haben - es war ja 2006 sehr schwierig Autoren zu finden.»


Heute, so Clarke, schauten die neuen jüngeren Autoren im Buch «mit einer breiteren ‹queeren› Brille» auf die an gesprochenen Themen. Clarke rechtfertigt sich: «Als der Verlag anfragte, ob wir das lange vergriffene Buch, das es nur noch als eBook gibt, nachdrucken wollen, hatte ich gesagt, eine komplett überarbeitete Ausgabe fände ich besser, weil seit 2007 so unendlich viel passiert und weil es heute so viele Forscher in dem Bereich gibt, die Neues zu erzählen
Gegliedert ist das Buch mit dem Song-Titel aus Leonard Bernsteins „Candide“ in 18 thematisch grundsätzliche Artikel und 21 „Operettenmomente“ überschrieben, in denen Regisseure, Musikwissenschaftler Journalisten, Dirigenten, Theaterkritiker, Theaterhistoriker , Filmkritiker und Moderatoren, aber auch Pfarrer, Uhrmacherund andere Autoren zu Wort kommen, die etwas beitragen können zur queeren Thematik, die fasziniert sind von der (schulen) Operette als originär queerer Ausdrucksform heiter satirischen Musiktheaters.


Interessant ist in diesem Zusammenhang der Text von Brian D. Valencia „Glitter, but don‘t be gay“ über die internationalisierte Homophobie und geheime queere Subtexte in Leonard Bernsteins „Candide“
Auf einige Artikel der Erstausgabe wurde verzichtet, neue kamen hinzu. Besonders lesenswert sind die Artikel „Fritzi Massary, die Diva Assoluta der erotisierten Operette“, „A New Moon Rising! Operette zwischen Queerness, Feminismus und Science-Fiction“ oder „Gaytopia: Die ganze Welt ist himmelblau pink. Queer-Reeding in der Operettenaufführungspraxis“


Die Beiträge sind in Qualität und Machart sehr unterschiedlich. Es ist allerdings fraglich, ob es dem wissenschaftlichen Anspruch und der Lesbarkeit des Buches dient, wenn Tillmann Triest seinem knapp 8 Seiten zählenden (aufschlussreichen) Aufsatz über das „Operettenpublikum in der deutschen (Nicht-) Besucher*innenforschung“ mehr als vier Seiten Anmerkungen hinzufügt. Autor Tillmann Triest stellt übrigens die „vage Vermutung“ an, „dass bei Koskys Operettenarbeiten an der Komischen Oper Berlin eher ältere schwule Männer anzutreffen sind und bei den Produktionen des queerfeministischen Oper*ettenkollektivs tutti d’amore in der Freien Szene tendenziell eher junge Personen, die sich als queer identifizieren“.


Breit und entsprechend perspektivenreich ist die Auswahl der Autoren aus unterschiedlichen Generationen, die unterschiedliche Erfahrungen machten und verschieden sozialisiert sind. Es gibt Autoren, die verdanken „Erkennen Sie die Melodie“ und dem “Blauen Bock“ glühende Fernseh-Momente, andere markieren Rothenberger & Co als schwule Sehnsuchtsfiguren, wieder andere bekennen, dass den Studenten im Musiktheaterseminar Namen wie Lucille Ball, Zarah Leander und Clivia absolut unbekannt waren. Christoph Domkes Ausführungen bezeichnen gar „Fernsehoperette als Coming-out Hilfe“. Sein Text über das „Zauberwort Camp“ ist fast Programm des Buches.


Es gibt manche fragwürdigen Texte, aber auch solche, die zweifellos seriös und unanfechtbar daherkommen, wie etwa Hans-Dieter Rosers (des Franz von Suppé-Spezialisten) gelehrte Ausführungen über „Cross-Dressing in der Wiener Operette 1860-1936.“


Die bunte Mischung an Themen und Autoren bringt es mit sich, dass die Dramaturgie der Texte eher assoziativ als systematisch erscheint und sich zu alles anderem als einer Kulturgeschichte der Operette rundet. Das Buch ist weit davon entfernt, schon wegen des verengten Blickwinkels der meisten Texte. Was das Buch will, verraten Texte wie „Raus aus dem Schrank! Eine Evolutionsgeschichte der Repräsentation“, in dem Kevin Clarke beispielhaft einen Bogen schlägt Von Offenbachs „Die Insel Tulipatan“ (1868) über Patience“ (188) bis zu „The Bastly Bombind“ (2006) und Operette für zwei schwule Tenöre, (2021). Untertitel wie „gleichgeschlechtliche Ehe“, “Männliche Sexsymbole“ oder „The Invention of Love“ machen deutlich, worauf das Buch zielt. Aber auch, um einige UT aus anderen Beiträgen zu zitieren, „Anderssein als Chance“, „Schwule Sehnsuchtsfragen“, „Erotische Sprengkraft“. Der geradezu Programmatische Titel “Die Wiedergeburt de Operette im Geiste der Pornographie“ die Kevin Clarke Barrie Koskys Entfernung „von der Nachkriegstradition der Operette als schmerzstillendem Mittel“ bescheinigt, ist unmissverständlich.


Dem Fazit Clarkes kann man allerdings nur zustimmen: „dass ausgerechnet die vermeintlich altbackene und verstaubte Gattung Operette ein Vorreiter und früher Verfechter der sexuellen Befreiung und Selbstbestimmung im Kern viel moderner ist, als ihr heute gemeinhin zugetraut wird“.
Es ist der vielleicht wichtigste Satz des 351 Seiten zählenden Buches. Die unterschiedlichen Beiträge der vielen, etwa drei Dutzend Autoren beglaubigen ihn mit ihren Beiträgen, auch wenn manches Geschriebene und Behauptete zweifelhaft erscheint.


Tillmann Triest, Nick Sternitzke, Mick Besuch u.a. beleuchten das als spießig verschriene Musiktheater-Genre Operette von dessen vermeintlich anarchisch-queeren Anfängen im 19. Jahrhundert über die reaktionäre Verkitschung zur Zeit des Nationalsozialismus bis hin zur jüngsten Frischzellenkur durch Barrie Kosky in Berlin, Sasha Regans All-Male-Inszenierungen von Gilbert-&-Sullivan-Stücken in England, Nitzberg & Neills Terroristenoperette «The Beastly Bombing» mit schwulen Neonazis und Al-Kaida-Kämpfern in den USA und den Erfolg der «Operette für zwei schwule Tenöre» quer durch Deutschland.


Viele Operetten und ihre Komponisten werden in Clarkes Buch zur Sprache gebracht. Große (unterschiedlich bewertete) Diven wie Fritzi Massary, Anneliese Rothenberger, Zarah Leander, Margit Schramm und Elisabeth Schwarzkopf, Florence Foster-Jenkins oder Dagmar Manzel, aber auch manche sexy Rebellen des Operettengeschäfts werden als Kronzeugen, ja als Ikonen oder als abschreckende Beispiele des speziellen Ansatzes Clarkes gefeiert. Viele Operettenbücher werden zitiert, kritisiert, auseinandergenommen. Exzellent ist die reiche Bebilderung des Buches.


Besondere Seitenhiebe erteilt Kevin Clarke dem von Vielen als „Operettenpapst“ geltenden Volker Klotz, der nicht einmal das Wort „Sex“ benutzt habe (freilich nennt er mit anderen Worten den Sachverhalt als solchen!) und einem seiner „Nachfolgers wie Stefan Frey vom Operetten-Boulevard des Bayerischen Rundfunks“ der Sexualität und Homosexualität überhaupt nicht behandele. Aber auch die 2003 in Martina Franke veranstaltete Konferenz zur aktuellen Situation und Relevanz von Operette bekommt ihr Fett ab. Nur eine Person, natürlich Kevin Clarke habe dort über Sexualität, insbesondere Homosexualität (das Dauer-Thema des Autors) gesprochen.


„Diese Reloaded»-Ausgabe will daher insistieren, dass (Homo-)Sexualität in der Auseinandersetzung mit Operette weiter Sichtbarkeit bekommt.“


In der Einleitung schreibt Clarke: «Ich sehe das Buch als Start für möglichst viele, kontroverse, empowernde, leidenschaftliche, persönliche, weitere Auseinandersetzungen mit einem Genre, das solche vielfältigen Auseinandersetzungen verkraftet – und verdient.» Dem kann man nur zustimmen, den explizit schwulen Blickwinkel des Buches mit seinen diesbezüglichen Thesen muss man allerdings nicht teilen. Man mag ihn ablehnen oder annehmen. Auf jeden Fall vermittelt diese Text-Anthologie einen interessanten, aufschlussreichen, zuweilen skurrilen - aber lesenswerten - Blick auf die schillernde Gattung Operette, die besser ist als ihr Ruf.



Rezension in "Der Opernfreund"



+