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Von wegen musikalischer "Märchenonkel"!
Zum 100sten Todestag Engelbert Humperdincks am 27. September 2021
Der Musikschriftsteller Paul Bekker bezeichnete Engelbert Humperdinck 1908 erstmals als „gemütlichen Hausvater“ und musikalischen „Märchenonkel“.
Die Oper „Hänsel und Gretel“ machte Engelbert Humperdinck zwar weltbekannt und zum musikalischen Märchenerzähler der Nation. Aber ihr Komponist ist noch immer so wenig bekannt wie seine Biographie: Seine Jugend im rheinischen Siegburg und Paderborn, seine Stipendiatenzeit in Italien, seine Wagner-Assistenz in Bayreuth, seine Reisen durch Frankreich und Spanien, seine beruflichen Stationen in Köln, Essen, Barcelona und Mainz, die Höhepunkte seiner Karriere in Frankfurt und Boppard (wo er seine imposante Komponistenresidenz erbaute), sowie das Kapitel seines späten Ruhms (als Professor an der Akademie der Künste) und sein Abgesang in Berlin. Dort zählten so diverse Komponisten wie Manfred Gurlitt, Kurt Weill, Friedrich Hollaender, Robert Stolz und viele andere zu seinen Schülern, Zu seinen bedeutendste gehören zweifellos der Dreigroschenopern-Komponist Kurt Weill und der Wagner-Sohn Siegfried.
Der 1854 im Rheinland geborene Fin-de-siècle-Komponist war gefeierter Dirigent, Pädagoge, Komponist, Musikkritiker, -schriftsteller und Volksliedsammler. Eine imposante Erscheinung im Musikleben seiner Zeit, weit mehr als nur „Repräsentant der Gründerzeit“, wie Matthias Corvin in seiner aus Anlass des hundertsten Todestages des Komponisten veröffentlichten Biographie schrieb.
Obwohl schon zu Lebzeiten berühmt, war Humperdick, wie der von ihm ausgebildete Komponist und Pianist Walter Niemann überliefert, ein „großer Schweiger“. Er redete „mit leiser, gütiger, leicht siegerländisch-niederrheinisch gefärbter Stimme, knapp und sachlich, warm, wie denn der herzensgütige, stille Mensch – neckender Humor ersetzte das rheinische Temperament – und der poesievolle Tonpoet des deutschen Waldes. Von seinen eigenen Werken sprach er nie; er war der bescheidenste, aber dadurch umso größere Künstler.“
Neben der Deutschen Waldoper „Hänsel und Gretel“ (er nannte sie sein "Kinderstubenweihfestspiel§) schrieb er weitere 14 Opern bzw. Werke für Musiktheater, eine Reihe von Chor- und Orchesterwerken, 80 Lieder und viel Kammermusik. Neun Schauspielmusiken komponierte er, darunter für den Berliner
Regisseur Max Reinhardt zu dessen Inszenierungen von Shakespeares „Der Sturm“, „Ein Wintermärchen“, „Was ihr wollt“ und „Der Kaufmann von Venedig“. Nicht zu vergessen die Pantomime „Das Mirakel“, die 1911 in London ihre Premiere erlebte, um später in Berlin, New York und bei den Salzburger Festspielen Triumphe zu feiern, beinahe so etwas wie eine Vorwegnahme der Filmmusik.
Humperdinck tauschte sich mit vielen berühmten Komponisten seiner Zeit aus, u.a. mit Richard Strauss, Giacomo Puccini und Hugo Wolf, Max von Schillings, Ermanno Wolf-Ferrari, aber auch mit Dirigenten wie Arthur Nikisch, Hermann Levi und Felix Mottl. Er blickte stets über seinen Tellerrand, war neugierig, aufgeschlossen für Neues und diskussionsfreudig, kurz: Er war auf der Höhe seiner Zeit. Thomas Mann zum Trotz, der in Humperdinck „den deutsch-bürgerlichen Teil des Wagner-Erbes erblickte, mit „Käppchen-Meistertum und Treufleiß“ widersprach der Kulturkritiker und Opernkenner Oskar Bie schon 1923 und behauptete, Humperdinck und Strauss seien „die zwei Pole der modernen Musik“.
Natürlich war Humperdinck zeitlebens bekennender Wagnerianer, aber er fand doch seinen eigenen musikalischen Tonfall (auch wenn er von Wagners Chromatik und Leitmotivtechnik fasziniert war) und segelte kompositorisch durchaus nicht im Fahrwasser seins Idols. Wagnerepigone war er nicht, obwohl er schon als junger Mann Richard Wagner bei der Parsifal-Uraufführung in Bayreuth assistierte. Er war maßgeblich an den Vorbereitungen zur Uraufführung des „Parsifal“ beteiligt, kopierte die “Parsifal“-Partitur, schrieb diverse Arrangements für Wagner, bewährte sich als Solorepetitor und verlängerte auf Wagners Wunsch die Verwandlungsmusik im ersten Akt des „Parsifal“. Von Wagner, der Zeitgenossen und Kollegen nur selten lobte, ist über Humperdinck der Ausspruch überliefert: "der komponiert wie der Teufel."
Humperdinck, einer der bedeutendsten Künstler im Deutschen Kaiserreich, starb am 27. September 1921 in Neustrelitz nördlich von Berlin. Die Biografie Matthias Corvins, liefert eine längst überfällige Neubewertung des unterschätzten Komponisten. Zuletzt hat nach Otto Boschs früher Humperdinck-Biografie von 1914 der (nationalsozialistisch schwer belastete) Humperdinck-Sohn Wolfram 1965 die letzte deutschsprachige Biografie des Komponisten vorgelegt. Er hat im Dritten Reich seinen Vater zu Unrecht „als Vorreiter rechter Ideologien“ gefeiert. Das war er gewiss nicht!
Das Buch von Matthias Corvin „Märchenerzähler und Visionär.
Der Komponist Engelbert Humperdinck“ ist im Schott Verlag erschienen, hat 292 S.
Aus aktuellem Anlass sind zwei CD-Neuerscheinungen herausgekommen:
„Erinnerung - Homage To Humperdinck“
Deutsche Grammophon (2 CDs) DG 00289 483 9763
Bis heute ist die Märchenoper “Hänsel und Gretel” von Engelbert Humperdinck populär (Ausschnitte aus der überragenden Solti-Gesamtaufnahme gibt es auf der CD), ein Großteil seines umfangreichen Œuvres aber ist in Vergessenheit geraten und kommt nur selten zur Aufführung. Aus Anlass des 100. Todesjahres des Komponisten würdigt die Deutsche Grammophon Humperdincks Musik mit einer Anthologie, in der seltene Archiveinspielungen, aber auch Pretiosen wie das bemerkenswerte Vorspiel zu „Tristan“ für Kammermusik ( hervorragend das Schuman Quartett), die beiden Shakespeare-Suiten mit dem Bamberger Symphonikern unter Karl Anton Rickenbacher, Ausschnitte aus der Oper „Die Königskinder in der Einspielung von Armin Jordan), „Weihnachtslieder“ (mit Dietrich-Fischer Dieskau und Christina Landshammer sowie die Weltersteinspielung des frühen Klavierstücks “Erinnerung” mit Hinrich Alpers, das frühe Klavierquintett G-Dur von 1875 und das späte Streichquartett C-Dur. Ein hochkarätiger Querschnitt durch das Œuvre des vielleicht wichtigsten Komponisten des deutschen Kaiserreichs neben Richard Strauss. Wahrlich eine Hommage.
„More than a Myth-Chamber Music & Songs by Engelbert Humperdinck“
Hänssler 1 CD. HCD 21022
Humperdinck als Kammermusiker ist weithin unbekannt. Mit 13 Kompositionen nimmt die Kammermusik nur einen kleinen Anteil in Humperdincks Werk ein. Humperdinck begann schon in seinen Kölner Studentenjahren für seinen Bekannten Johannes Degen (er war hauptberuflich Amts- und Friedensrichter) zu komponieren, der als Dilettant ein begnadeter Sänger und Geiger war. Im Gegenzug durfte Humperdinck mit dessen Kammermusikzirkel regelmäßig auftreten und für ihn komponieren. Entsprechend der vielfältigen Besetzungen dieses Zirkels sind die Werke der CD vielfältig: Der Geiger Thomas Probst spielt ein Menuett in Es-Dur für Klavierquintett, ein Notturno für Violine und Streichquartett in G-Dur, einen Quartettsatz in e moll, ein „Albumblatt für Violine und Klavier“ und eine zweisätzige Sonate für Violine und Klavier. Thomas Probst wird begleitet von Ursula Fingerle-Pfeffer (Violine), Susanne Unger (Violine), Daniel Schwartz (Viola), Clara Berger (Cello), Jörg Ulrich Krah (Cello) sowie Karsten Lauke (Kontrabass). Die wohl erstaunlichste Einspielung der CD ist eine Bearbeitung von Wagners Tristan-Vorspiel für Kammermusikensemble (Humperdinck griff in Wagners Komposition ein und komponierte die letzten 24 Takte neu, versah damit das Vorspiel mit einem eigenen konzertwirksamen Schluss.) Der Bassbariton Nikolay Borchev interpretiert das „Altdeutsche Minnelied“, „An die Nachtigall“, „Das Lied vom Glück“, „Die Wasserrose“, „Die wunderschöne Zeit“, „In einem kühlen Grunde“ oder den Ohrwurm „Wiegenlied“, begleitet am Flügel von Elenora Pertz. Auch wenn nicht alle Einspielungen als optimal gelten dürfen, sie vermitteln doch eindrucksvoll ein Bild es nahezu unbekannten Kammermusikers Humperdinck.
Artikel auch in „Freie Presse“ Chemnitz