Hartmut Haenchen: "Werktreue und Interpretation"

"Zurück zu den Quellen"

Summe und Fazit reflektierenden Dirigentenlebens

Hartmut Haenchen: Werktreue und Interpretation

Summe und Fazit eines reflektierenden Dirigenten


Der Dirigent Hartmut Haenchen, ehemaliger Dresdner Kruzianer, galt zu DDR Zeiten als politisch missliebiger Dirigent. Er litt zeitweise unter Dirigierverbot und erhielt erst 1986 die Ausreisegenehmigung in die Niederlande, wo er 20 Jahre lang das Musikleben Amsterdams prägte. Heute ist der vielfach geehrte und ausgezeichnete Dirigent einer der gefragtesten Wagnerinterpreten in aller Welt. Immer wieder hat er sich auch als Autor zu Wort gemeldet. Jetzt legte er in einem zweibändigen Werk mit dem Titel «Werktreue und Interpretation» seine gesammelten Aufsätze vor.


Hartmut Haenchen ist Rekordhalter im Dirigieren von Wagners "Ring". Zweiunddreißig Zyklen der Mammut-Tetralogie hat Hartmut Haenchen bis heute dirigiert. Sein Amsterdamer "Ring" ist nicht nur, was die Inszenierung von Pierre Audi angeht, sondern auch in Bezug auf das Dirigat, eine Sensation. Man hört Wagners "Ring" in Amsterdam völlig neu, denn Hartmut Haenchen  dirigiert Wagner anders als die meisten seiner Kollegen. Schon, weil er sich mit den überlieferten Aufführungskonventionen, und vor allem mit dem Notentext, so wie er vorliegt, nicht zufriedengibt.   


Die Hälfte seines zweiten Bandes ist denn auch Ausführungen zu Wagners "Ring" gewidmet, für den er ein komplett neues Orchester-material erarbeitete. Auf der Grundlage seiner Amsterdamer "Studien hat Haenchen eine Art integriertes "Ring"-Handbuch erarbeitet, in dem er eine minutiöse Begründung seiner berechtigten Kritik an falschen Wagner-Aufführungskonven-tionen und fragwürdigem  Noten-material darlegt, das Werk musikalisch und gedanklich erläutert, die wichtigsten bisherigen CD-Einspielungen hinsichtlich ihrer Tempi miteinander vergleicht und Druckfehlerlisten beifügt, für alle, die sich genauer mit der Partitur beschäftigen wollen. Aber Haenchen hat auch Aufsätze über Wagners "Tannhäuser" und "Parsifal" geschrieben. Gerade diesem letzten Werk Wagners bescheinigt er eine geradezu "moderne, dialektische, binäre Struktur aus Handlung und Reflexion", die miteinander verwoben seien. Im "Parsifal" gebe es eine  "Form des Weiterdenkens während des Stillstands der Musik. "Der Stillstand und die Pausen" seien "zum entscheidenden Faktor der Musik ge-worden.". "In den Pausen", so Haenchen, "entwickelt sich die Musik unhörbar  weiter. ... In den Pausen finden Zeit- und Gedanken-sprünge statt." Eben deshalb ist die Formel des Gurnemanz "Zum Raum wird hier die Zeit" das Motto von Haenchens brillianter Auseinandersetzung mit Wagners "Weltabschiedswerk".


Richard Strauss habe einmal gesagt, so liest man in Hartmut Haenchens Buch, man müsse 70 Jahre alt werden, um die schwierige Auf-gabe des Dirigierens zu begreifen. Im März vergangenen Jahres wurde Harmut Haenchen siebzig Jahre alt. Seit 55 Jahren steht er am Pult. Er galt als Spezialist mal für alte, mal für neue Musik, für Haydn und Brahms, Strauss und Mahler. In seiner Publikation legt er Zeugnis davon ab, dass der Beruf des Dirigenten vor allem ein Erfahrungsberuf ist. - Harmut Haenchen schöpft aus der Fülle langjähriger Erfah-rungen. Und er ist ein reflektierender, kein intuitiver Dirigent, dem es mehr um die Sache als um seine Person geht. Er verkauft sich nicht, wie manch einer seiner Kollegen, als Projektionsfläche unterschiedlichster Bedürfnisse und Sehnsüchte des Publikums oder des Musikbusiness. Er bekennt denn auch: „Ich gelte als unbequemer Dirigent. Und das bezieht sich auf die Politik und auf die Kunst. Ich bin da nicht sehr kompromissbereit, gebe ich zu.“ 


Über beides erfährt man viel und eindrucksvolles in den beiden Bänden, sowohl über seine Auffassung des Dirigierens und Interpre-tierens von Musik, als auch über seine unerschrockene Biographie, über die Stationen seiner Karriere, die ihn von  Halle, über Zwickau, Berlin, Schwerin und Dresden Mitte der Achtzigerjahre in die Niederlande führten, wo er fast 20 Jahre lang das Musikleben Amsterdams mit-bestimmte und prägte. Ungeniert schreibt er über die Einsicht in seine bis 1989 geführten Stasi-Akten und über die aus heutiger Sich geradezu grotesk anmutenden Umstände seiner Ausreiseaus der DDR, die ihm als unbequemem, politisch nicht zuverlässigem Dirigenten viele Steine in den Weg gelegt habe, bis hin zu Arbeitsverbot. 1986 bot man ihm offiziell an, als "Selbstfreikäufer" in die Niederlande auszureisen. Unter der Bedingung, 20 Prozent all seiner Einkünfte an die DDR zu zahlen. Um das zu überprüfen, habe die Stasi sogar in Amsterdam IMs  auf ihn angesetzt.  - Tempi passati. - Heute wird Hartmut Haenchen nicht nur in den Konzert- und Opernhäusern Am-sterdam, sondern auch in Paris und Brüssel, Leipzig und Mailand, Dresden und Madrid geschätzt und gefeiert als einer der gewissen-haftesten Vertreter seiner Zunft.


Hartmut Haenchen hat in vielen Publikationen und Vorträgen, Moderationskonzerten und Programmheftartikeln Kluges gesagt und geschrieben. In seinem jetzt erschienenen zweibändigen Werk hat er all das gebündelt und zusammengefasst: Summe und Fazit reflek-tierenden Dirigentenlebens. Darunter essentielle Abhandlungen zu Wagner, Mahler und Brahms, zu Beethoven und C. Ph. E. Bach. Fast wie eine Liebeserklärung liest sich Haenchens Hommage an seinen ersten Lehrer, den Leiter des Dresdner Kreuzchores, Rudolf Mauers-berger, der den Grundstein legte für Hartmut Haenchens musikalische Leidenschaft - für alte wie für neue Musik, fürs Dirigieren und fürs gründliche Quellenstudium.


"Glück" sei für ihn, wie er einmal äußerte, eine gute Partitur beim Lesen vollständig zu hören. Innerlich vorauszuhören. Aber es sei nicht nur Glück eines Dirigenten, sondern eine unabdingbare Voraussetzung allen Dirigierens, ebenso wie genaue Partituranalyse.


Die beiden Bände dokumentieren Hartmut Haenchens Auffassungen vom Dirigieren, für Studierende eine ideale Einführung in den Beruf, aber auch sein breites dirigentisches Repertoire: Neben Wagner, Mahler und Strauss dirigiert Hartmut Haenchen ja auch Bach und Haydn, Gluck und Mozart, Bernd Alois Zimmermann  und Aribert Reimann. Über all diese Komponisten schreibt er in seinem jüngsten Buch, immer mit wissenschaftlicher Fundierung, aber immer allgemeinverständlich. Und er macht in allen Fällen deutlich, was als sein dirigen-tisches Credo aufgefasst werden darf: Zurück zu den Quellen! Die Hauptaufgabe des Dirigenten sei es, die Erkenntnisse aus der gewissen-haften Analyse der Partitur im Abgleich mit den Quellen dem Publikum hörbar zu machen, will sagen emotional zu vermitteln. Wenn ihm das gelinge, so sagte er mir einmal, habe er erreicht, was er als Dirigent erreichen könne.


Sein Erfolg auf den internationalen Konzert- und Opernpulten bestätigt ihn. Sein nun vorgelegtes zweibändiges Buch darf man als theo-retische Rechtfertigung seiner Art des Dirigierens und der Interpretation von Musik im Spannungsfeld zwischen Werktreue und Interpre-tation lesen. Die Lektüre ist eine Bereicherung! Man blickt hinter die Kulissen von Oper und Konzert, erfährt viel aus Partituren und musikhistorischen Quellen und lernt in beigefügten Offenen Briefen zu kulturpolitischen Fragen auch den engagierten Dresdner und Zeitgenossen Hartmut Haenchen kennen. Dresden war für ihn, wie er schreibt, stets Flucht- und Zufluchtsort. Eine Diskographie rundet die Textsammlung ab. Man muss sie nicht von vorn bis hinten durcharbeiten. Die Aufsätze können - vom Musikliebhaber - einzeln ge-lesen werden, um sich über ein Stück zu informieren oder - vom  Studenten und Musiker - um sich konkrete Interpretations-Anweisungen herauszusuchen. Eine nützliche, hochinformative Publikation jenseits aller eitlen Künstlerautobiographik. Sie macht dem Beruf des gebildeten und verantwortungsvollen Dirigenten alle Ehre. Man möchte sie nicht nur jedem Hartmut Haenchen-Fan wärmstens empfehlen.



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