Pellegrino Artusi


Meilenstein der italienischen Gastronomieliteratur


Vor einiger Zeit schrieb ich über Paolo Petronis nahezu tausendseitigen Wälzer. Wie Petroni schreibt, ist Italiens Küche ein Spiegel seiner Kultur, Geschichte und Geographie. Er ist einer der unbestreitbaren Kenner der italienischen Küche und hat zahlreiche Koch-Bücher geschrieben. Sein Buch, dessen italienische Originalausgabe 2002 unter dem Titel „La Cucina del Bel Paese“ erschien, dann 2009 in Amerika unter dem, Titel „La Cucina. The Regional Cooking of Italy“ und seit 2020 nun auch in deutscher Ausgabe vorliegt, ist die Summe seiner Kenntnisse vom italienischen Kochen und gewissermaßen sein konkurrenzloses Bekenntniswerk. Er betont: „Die kulinarischen Traditionen Italiens zu bewahren war seit jeher die Hauptaufgabe der von Orio Vergani 1953 gegründeten Accademia Italiana della Cucina.“ Unter deren Oberaufsicht entstand ein beispielloses „Kochbuch für die Praxis“. Es ist eine Rezeptsammlung zur praktischen Nutzanwendung, kein Geschichtsbuch! Und doch basiert es auf der auf der Kenntnis familiärer Traditionen, des Alltagslebens, vor allem der unterschiedlichen und variationsreichen regionalen Küchen.Die Experten der Accademia haben 2.000 Rezepte aus allen Regionen Italiens zu einem einzigartigen Kochbuch zusammengetragen. Mit diesem konkurrenzlosen Buch lässt sich - heute - präzise und zuverlässig kochen.


Natürlich muss ich nun auch über Pellegrino Artusis Klassiker, „Die klassische italienische Kochkunst“ schreiben, denn das Buch ist ohne Frage ein theoretisch-kulinarisches Meisterwerk und zudem das erste Buch über die Küche ganz Italiens. Und es ist mehr als nur ein Kochbuch. Es ist das kulturgeschichtlich weitausholende Bekenntnisbuch eines wohlhabenden, kultivierten italienischen Bürgers aus der Toskana, der die die italienische Einheit der Küche propagierte  und die Fahne der italienischen Identität hochhielt.


Wie Massimo Bottura, einer der Top-Köche Italiens und bekennender Küchen-Traditionalist, im Vorwort des Buches schreibt: „Wir sprechen nicht mehr von dem Buch des Monsignore XY oder dem Handbuch eines Grafen von Soundso. Nein, wir haben hier einen Mann, der die kulinarische Kultur eines gerade erst geschaffenen Landes einheitlich niedergeschrieben hat. Vor allem aber haben wir es mit einem Querschnitt durch die heimische Küche zu tun, der uns die Unterschiede zwischen Kirche und Volk, zwischen damals und heute aufzeigt. ...
Für Frankreich lasst sich sagen, dass Escoffier und sein Buch die tragende Säule für die Geburt der großen Restaurants waren. Eine Tradition mit adligen Wurzeln, die in ihrer Kohärenz und Präzision extrem konsequent ist. Jahrelang hat die italienische Küche versucht, sich an das französische Modell anzulehnen, ohne dabei zu begreifen, dass die unserem Erfolg zugrunde liegende identitätsbildende Bedeutung eben in der Arbeit besteht, die Artusi vor 150 Jahren leistete. Es ist die Arbeit, die sehr viele große italienische Köche heute leisten, vom Piemont bis nach Sizilien, von Rom bis Mailand, von der Toskana bis in die Emilia. Die Traditionen aufzugreifen, die unter jedem Kirchturm im Land so faszinierend anders umgesetzt werden, und diese zu perfektionieren, sich der Zeit anzupassen, sie in den großen Restaurants zu servieren, derer sich Italien heute rühmen kann. Viele meiner Freunde haben in ihren Restaurants auch direkt auf der Basis von Artusis Rezepten gearbeitet, im Grunde genommen aber ist das etwas, das man so gut wie jeden Tag tut. Denn die Wurzeln unserer Küche finden sich an jenen Tischen, an denen täglich vier bis fünf Personen sitzen, an Feiertagen zehn bis zwölf, es sind die Familientische italienischer Haushalte, an denen seitjeher die Tradition bewahrt und auch entmythisiert wird.“


Der Schriftsteller Federico De Roberto schrieb in seinem Roman „L’imperio“: „Jetzt, wo Italien gebaut ist, sollten die Küchen vereinheitlicht werden,“ Es könnte geradezu das Motto Pellegrino Artusis sein, der in seinem symbolträchtigen Werk aus dem Jahre 1891 „La scienza in cucina e l’arte di mangiar bene“ eben dies in die Tat umsetzte, die italienische Küche, seine Sprache und vor allem sein Schreiben übers Essen und Kochen zu vereinen.


Artusi gelang es, die Herausforderung der Einigung Italiens auf ganz anderen Gebieten als Garibaldi, Cavour und Mazzini umzusetzen. Gastronomie, so bewies er, kann eben, mit den richtigen Mitteln und einer guten Portion Leidenschaft auch ein wichtiges politisches Instrument sein. Freilich, Artusis Waffen waren nicht politischer oder militärischer Art, sondern schriftstellerischer: In perfektem und verständlichem Italienisch führte er einen andauernden Dialog mit italienischen Frauen (d. h. mit solchen, die die Kochkunst bewahrt haben), seinen Lesern und Kollegen.


Die auf seine Kosten erschienene Erstausgabe bestand im Wesentlichen aus einer Sammlung von Rezepten, die Artusi im Laufe der Jahre auf seinen Reisen als Tuchhändler zusammengetragen hatte. Dank der Postanschrift, die gewissenhaft auf der Titelseite des Buches hinterlassen wurde, kamen etwa 1.800 Briefe aus ganz Italien zu Ihm. Die Frauen, die sich angesprochen fühlten, begannen ihn mit Vorschlägen, Erläuterungen und Rezepten zu überhäufen (die er umgehend von seinem Koch mit Produkten vom Florentiner Markt zubereiten ließ), was ihm erlaubte, sein Manuskript in der letzten Ausgabe von 1911 auf 790 Rezepte anwachsen zu lassen, ein „work in progress“.


Artusi wurde 1820 in einem kleinen Dorf in der Emilia-Romagna geboren: dieser Pellegrino Artusi. Als erfolgreicher Seidenhändler, von seinen Eltern mit einem beachtlichen Vermögen ausgestattet, war Artusi unabhängig und in der Lage schon früh ein Pensionärsdasein zu führen. Er nutzte sein Privileg allerdings kreativ, indem er sich autodidaktisch und experimentierend der Küche und dem Kochen zuwandte.


Sein kulinarisches Interesse veranlasste ihn dazu, eifrige Rezepte von Köchinnen, Müttern und Großmüttern aus vielen Regionen Italiens zu sammeln und zu einem Kochbuch zu verarbeiten. Er wollte die ganze Bandbreite der Gerichte der italienischen Küche abdecken: Antipasti, Suppen, Nudel- Fleisch- und Fischgerichte sowie Desserts. Er bettete seine Rezeptsammlung allsrtdings ein in seine Philosophie der Küche und er unterwies seine Leser in gesundem Essen und gesunder Zubereitung des Essens, er gab Menüvorschläge und fügte ein Rezepte-Register an.


„Mit diesem Kochbuch leistete Pellegrino Artusi einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der italienischen Nationalidentität. Artusi betonte die Unterschiede zwischen den verschiedenen regionalen Küchen Italiens und hob gleichzeitig ihre Gemeinsamkeiten hervor. So half das Buch, ein Gefühl der Einheit und Zusammengehörigkeit unter den Italienern zu schaffen, indem es eine gemeinsame kulinarische Tradition präsentierte. Ein Nenner, auf den sich viele Bürger des noch jungen Landes einigen konnten. Dabei half auch, dass Artusi die französischen Bezeichnungen für Gerichte, die damals gängig und angesagt waren, durch italienische Begriffe ersetzte. Dadurch stärkte er das Selbstbewusstsein italienischer Kochkunst, die sich keineswegs hinter der französischen Kochkultur zu verstecken brauchte.“ (Torsten Schäfer in seinem Blog dishes-delicious.de)


Das Buch, das der Autor 1891 im Alter von 71 Jahren geschrieben hat gilt heute gewissermaßen als die Bibel der italienischen Küche. Es hatte große Bedeutung für die internationale Propagierung italienische Kochkultur, war aber auch und vor allem ein nationales, politisches Symbol der Einigung Italiens und diente der Identitätsstiftung des noch jungen, politisch geeinten Landes.


Sein Buch „La Scienza in Cucina“ war das erste Kochbuch, das eine Vielzahl von regionalen Gerichten aus Italien sammelte und sie einem nationalen Publikum präsentierte, er schrieb in einem klaren und einfachen Stil, der auch für Laien verständlich war und seine Rezepte basierten auf bodenständigen Gerichten und Hausmannskost, was der Popularität des Buches zugutekam.
Nach anfänglichen Startschwierigkeiten (der Autor beschreibt in seinem Vorwort, wie schwer es war, einen Verlag zu finden) wurde das Buch zu einem großen Wurf, ja einem Kassenknüller, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde.


Allerding hält Artusi an der bis heute zu Unrecht vorherrschen Abwertung des Südens Italiens fest, was sich auch in seiner Rezeptsammlung niederschlägt, in der der Norden Italiens eindeutig dominiert und seinem Buch eine gewisse Einseitigkeit verleiht. Auch wird die (von jahrhundertelanger Kulturvermischung profitierende) reiche Kochtradition Siziliens weitgehend ignoriert,


Bei allem Respekt vor der Leistung Artusis: Seine Rezepte bedürfen in ihrer Realisierung schon gewisser lukullischer Phantasie, Küchen-Erfahrung und Koch- sowie Warenkenntnisse des Lesers. Viele Angaben sind zu pauschal, unkonkret und blumig verschnörkelt. Von den je nach Region verschiedenen Bezeichnungen der Zutaten ganz zu schweigen.


Gleichwohl gilt der Artusi auch heute noch als Eckpfeiler der italienischen Gastronomieliteratur. Das Buch „La scienza in cucina e l’arte di mangiar bene“ begann um 1900 seinen Siegeszug um die Welt.
Es ist ein Meilenstein des Erfolgsphänomens der „Cucina italiana“, über die Dieter Richter in seinem lesenswerten Buch “Con gusto“ (über die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht) formulierte: „Jahrhundertelang galt die italienische Küche den Besuchern aus dem Norden als ungenießbar und gesundheitsschädlich. Heute ist sie zur gastronomischen Signatur der Moderne geworden, zur Zauberformel des guten Lebens.“