Dieter Richter. Con gusto

An der kleinen, aber feinen kulinarischen Geschichte der Italiensehnsucht Dieter Richters kommt man nicht vorbei!

 

Auch mit seinem achten Buch, das bei Wagenbach erschienen ist, bleibt Dieter Richter seinem Thema, dem Süden Italiens, speziell Neapel treu. Warum auch nicht? Schließlich ist er einer der der besten Kenner jenes Landes, „wo die Zitronen“ blüh’n“ wie Mignon bei Goethe singt, in dem mehr als anderswo Makkaroni gegessen und mit Olivenöl gekocht wird.


Allerdings dauerte es lange, bis die italienische Küche hierzulande den Triumph des mediterranen Geschmacks feiern sollte. Das ist das Thema seines Buches.  „Die eigene und die fremde Zunge“ ist der erste Teil des Buches überschreiben, in dem Richter einen Abriss der „kulinarischen Geschichte“ der sogenannten „Italienischen Reise“ gibt, sei es der „Grand Tour“ aristokratischer bzw. betuchter Personen des 18. Oder 19. Jahrhunderts oder der Ferientouren (mit der Postkutsche und der Bahn) des modernen Tourismus.


Was uns heute selbstverständlich scheint, die Wertschätzung der italienischen Küche, hat eine lange Vorgeschichte. Dieter Richter erzählt sie als Geschichte auch der Italiensehnsucht.  Im 17. und 18. Jahrhundert begann die moderne Schwärmerei für Italien, allerdings eher als Augenlust, denn als Gaumenschmaus. Die klassischen Monumente wurden hochgeschätzt, die Küche hingegen galt für die Reisenden aus dem Norden weithin als ungenießbar, wo nicht gesundheitsschädlich. Olivenöl und Knoblauch würden den Reisenden verfolgen, so noch in einem Italienbuch aus dem Jahre 1883, das Richter zitiert, so als wären die Italiener „alle polnischen Juden.” Einmal vom antisemitischen Stereotyp abgesehen, spiegelt das Zitat die weitverbreitete Oliophobie. Die “cucina all’olio” wurde mit “Ölkrankheit” gleichgesetzt.


Es war Fanny Lewald, die weltoffene und emanzipierte Berliner Saloniere, die als erste die Vorzüge des Olivenöls gegenüber Butter und anderen tierischen Fetten pries und den Initilaimpuls zum modernen Olivenölboom gab. Auch die pasta lunga, zumal die Maccaroni, wurde als ekliges ”gelbgraues Wurmgewinde” abgetan. Sogar der renommierte Schriftsteller Johann Gottfried Seume sprach angesichts der Ruinen von Syrakus noch vom “bestialischen Makkaronenfraß.”  Auch frutti di mare, also Meerestiere, Fische, Muscheln, Krustentiere waren verpönt. „Pfui, wer kann so etwas essen wollen“ schrieb der aus Frankfurt stammende Kaufmann und Schriftsteller August Kellner. Richter weiß so einige für uns heute befremdliche Äußerungen und Geschmacksurteile berühmter und weniger berühmter Italienreisender aufzuspüren. Vor allem die “Figur des Mangarimaccheroni, des Maccaroniessers, wurde zum Emblem des Neapolitaners, ... und fand Eingang ins Repertoire zeitgenössischer Fotografen.” Solche und andere Abbildungen fügt der Autor seinem schönen und klugen Buch zur Veranschaulichung bei.


Der Pizza ist ein besonderes Kapitel gewidmet, jener wohl neapolitanischsten aller Gerichte. Es erzählt die Entwicklung von der anfänglichen Verachtung des belegten Fladenbrots als Street Food für arme Leute Neapels, des “Wespennests der Menschheit”, bis hin zum weltweiten Siegeszug. Von Neapel, einer der größten, bedeutendsten, aristokratischsten wie plebejischsten Städte Europas im 18. Jahrhundert, seinen „Lazzaroni“ (Unterschichtsbevölkerung on the street) , „Maccaronitrödlern”, „nocellare“, Nusshändlerinnen, mobilen Garküchen, aber auch „acquaioli“, Wasserverkäufern, und „nevaiuoli“, Schneehändlern. ... von „sorbettieri“ und „gelatieri“, berichtet Richter.


Richter erzählt skurrile Geschichten, nennt aufschlussreiche Daten und zitiert zuverlässige Fakten und Standard- wie entlegene Werke. Er ist ganz in seinem Element. Beispielsweise, so erfährt man, wurden 1783 an die 500 Tonnen Schnee in Neapel gehandelt, zur Herstellung von „rinfreschi“ (Erfrischungen) wie Sorbet und Speiseeis, aber auch zur Kühlung von Wasser und Wein. Es gab ja noch keine Kühlschränke. Erst sehr viel später wurde gefrorenes Street Food bei uns populär. Liebe zu Italien ging zwei Jahrhunderte nur “durch den Kopf, nicht durch den Magen,” weiß Richter und er weiß ein Lied zu singen von touristischem Gastro-Nationalismus, von den deutschen Hotels, Trattorien Bierlokalen und Wurstfabriken in Neapel, Rom, Venedig und auf Capri. Bekannte Literaten sind seine Kronzeugen. Auch die Briten, die an ihren Essgewohnheiten nichts ändern wollen im Ausland, machen da durchaus komische Figur. Hochinteressant, dieser Zusammenhang von “Gastrokultur, Diaspora und nationaler Identität.”


Über das Reisen per Postkutsche und Übernachten sowie Speise in Poststationen, lernte der gewöhnliche Reisende das “Essen, was auf den Tisch kommt” kennen. Das war “Reisen als kulinarisches Abenteuer”. Dem Essen der Einheimischen schenkt Richter große Aufmerksamkeit, er kennt sich aus. Als Glücksfund darf die zufällig aufgefundene Speisekarte eines römischen Künstlerlokals, der “weltberühmten Hasenschänke”, der Trattoria Lepre gewertet werden, die detailliert ausgewertet wird. Aber auch von vielen anderen Weinschänken, Osterien und Bierhäusern ist die Rede. Das Buch ist eine wahre Fundgrube für den Gastro-Historiker, der sicher auch Anmerkungen und Literaturverzeichnis zu würdigen weiß.


Im zweiten Teil seines 164 Seiten fassenden Buches beschreibt Richter so profund wie die leidenschaftlich die “kulinarische Meridionalisierung des Nordens.” Um globale Wanderbewegungen geht es ihm. Seine Metapher ist die “Linea delle palme”, die Palmenlinie, "die sich von Sizilien aus wie das Quecksilber eines Thermometers kontinuierlich nach oben verschiebe, von Süden nach Norden, in schillernder Definition ebenso ein klimatisches, ein politisches wie ein gastronomisches Phänomen,“ so der Schriftsteller Leonardo Sciascia in seinem Roman „Der Tag der Eule“.


Thema Richters sind aber auch die Aromen des Südens:  Zitronen, Pomeranzen und Orangen (Agrumen), Lemonihändler, Pomeranzengänger und andere erste italienische Arbeitsemigranten. Das “Zitronemannsgässchen” in Fulda nennt Richter pars pro toto als “topographische Erinnerung an die im 18. Jahrhundert in den Städten entstandenen festen Niederlassungen italienischen Importwaren” und belegt, “dass mit dem Eindringen der Früchte aus dem Süden ein neuer Geschmack in Mode kam „und “die erste Welle eines kulinarischen Italianisierens” begann.


Über die Comasker Zitronenmänner und die Saisonarbeiter aus den Dolomiten, sie brachten uns nicht nur das Zitroneneis und den Limoncello. Über die Eisdiele (Inbegriff des Südens) wurde der Weg zum Massenkonsum geebnet, so Richter. Aufschlureiches erfährt man über “die Geschichte der Akkulturation italialienischer Eismacher in Deutschland,” aber auch das “Migrantenschicksal” der Pizza, die erst durch ihren Erfolg in den USA (der mit den dort eingewanderten Italienern zusammenhängt) auch bei uns Karriere machte, so wie die Idee des Delivery. Pizza- Lieferanten gibt es inzwischen rund um den Globus, ebenso Tiefkühlpizza: “Die Pizza ist das Kind der globalen gastronomischen Moderne,” so Richter.


Sogar in der DDR, wo sie zeitweise „Krusta“ hieß, feierte die Pizza Triumphe. Schließlich wurde die „Vera Pizza Napoletana“ 2017 in die Liste des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen. Richter stellt das ausführlich dar. Auch hier beeindrucken seine soziokulturellen wie politischen Details, so wird etwa das deutsch-italienische Anwerbeabkommen 1955 als Voraussetzung des Booms italienischer Restaurants genannt, aber auch der Massentourismus nach dem zweiten Weltkriegt. “Insgesamt entwickelte sich auf diese Weise in der Verschränkung von italienischer Arbeitsmigration und deutschem Italientourismus in zunehmend breiteren Schichten die Vorliebe für den fremden Geschmack des vorher verpönten Mediterranen.“ Maggi (ursprünglich eine italienische Marke/auch italienisch ausgesprochen!) feierte Triumphe. Die italienischen Restaurants schossen wie Pilze aus dem Boden. “Heute wird italienisches Essen längst nicht mehr nur im italienischen Restaurant angeboten, sondern ist Teil der allgemeinen kulinarischen Kultur im Norden geworden.“ 


Richter belegt das soziokulturelle Erfolgsmodell des italienischen Geschmacks. Die Formel „Pizza & Pasta ist zur Ikone des modernen Lebensstils geworden“

Virtuos schlägt der Autor einen Bogen von der „kulinarische Utopie der neuen Linken“ und deren erstem linksalternativem Kochbuch („Schlaraffenland, nimm´s in die Hand“) zur „Dieta meditteranea“, der Mittelmeerdiät und dem Traum vom gesunden Leben mit der und dank der Mittelmeerküche. Das Ziel seins gelehrten wie informativen, ja fasziniert zu lesenden Buches gipfelt in dem Satz: „Qui si manga bene“, „Hier isst man gut.“  Ein Bekenntnis zu Italien und seiner Küche am Ende des Buches. Wieder ein großartiger Dieter Richter, an dem kein Freund des Mittelmeers, speziell Italiens und kein Liebhaber der italienischen Küche vorbeikommt.