Wagners Antisemitismus. Eine Klarstellung

Richard Wagners Antisemitismus. Eine Klarstellung

 

Bis heute scheiden sich an Richard Wagner immer noch und immer wieder die Geister. Unkenntnis, konträre Ideologien und Missverständnisse bestimmen nahezu jede Wagner­de­batte. Das hat vor allem zu tun mit dem zwar nur 12-jährigen, aber folgenreichen düsteren Kapitel deutscher Geschichte, das 1933 begann und 1945 en­dete. Daher kommt, wer sich heute - nach dem Holocaust - mit Wagner beschäftigt, nicht umhin, den nationalso­zia­listi­schen Wagnermiss­brauch mit zu bedenken, der auch zu tun hat mit Wagners unleug­barem An­tisemitismus, der allerdings nach wie vor kaum je sachlich und differenziert betrachtet wurde und wird.  

 

Bis heute sind die Wag­ner-Debatten immer noch parteiisch und emotional, un­sachlich und von Vorur­teilen geleitet. Oftmals beteiligen sich erstaunlich Uninformierte an Auseinan­der­setzungen über Wagner. Aber selbst renom­mierte Wissenschaftler „verlieren zuweilen bei Wagner den Verstand“, wie der Wagner­spezialist Dieter Borchmeyer einmal zu Recht schrieb.

 

Eine sachlich differenzierte Analyse und historische Einordnung dieses Phänomens bedeutet nicht, den Antisemitismus Wagners zu verharmlosen oder gar abzustreiten.  Der britische Histo­riker Peter Gay hat in seiner Studie über Deutsche und Ju­den darauf hingewiesen: "zu hi­sto­rischem Ver­ständ­nis auf­zurufen und Einsicht wal­ten zu lassen, bedeutet nicht zugleich, abzustreiten und zu ver­niedlichen, was ge­schah." Ich darf an das Wort Hans Mayers erinnern: "Wenn es heute gelingt, dem Menschen Richard Wagner und seinem Werk mit Unbefangenheit gegenüberzutreten, so wird damit nicht Entsühnung oder gar Erlösung prak­ti­ziert, was undenkbar wäre, sondern historische Ge­recht­igkeit geübt."


Von Unbefangenheit kann nicht die Rede sein. Aber historische Gerechtigkeit sollte man schon walten lassen, denn bei Wagners Antisemitismus handelt es sich um ein historisches Phänomen. Es ist der Antisemitismus des 19. Jahr­hun­derts, von dem Wagner auf seine Weise befangen war. Und wäre er kein so berühmter Komponist, würde niemand darüber sprechen, weil das ganze 19. Jahrhundert durch und durch antisemitisch war. Von Ausnahmen abgesehen. Ganz anders ist beispielsweise der Fall Richard Strauss, um einen anderen berühmten Komponisten zu nennen. Richard Strauss – Zeitgenosse von Hitler und den Seinen, hat sich ganz bewusst und absichtsvoll in die Politik des National­so­zialismus einbinden lassen, hat ihr gedient, auf Kosten jüdischer Kollegen. Wie Gerhard Splitt in seiner wichtigen Arbeit über Richard Strauss als Präsident der Reichsmusikkammer nachgewiesen hat, hat Strauss aus ungeniertem Opportunismus und materiellem Kalkül die nationalsozia­listische antisemitische Musik­politik aktiv unterstützt, um für sich Vorteile daraus zu ziehen.  Ein zutiefst unmo­ralischer Fall. Er ist nicht zu vergleichen mit Richard Wagner, der ja lange vor Hitler, in einem anderen Jahrhundert lebte. Seine anti­jüdischen Affekte speisen sich aus anderen Quellen und verfolgten ein anderes Ziel. Dennoch befleißigen sich heute Viele der Gleichung: Wagner = Hitler. Aber diese Gleichung ist falsch!

 

Wagner ist kein einfacher Fall! Man muss sich schon genauer mit ihm beschäftigen, um ihn zu verstehen und sich ein Urteil über ihn erlauben zu können. Cosima hat in ihrem Tagebuch am 29. 3. 1878 notiert: „R. drückte sein Erstaunen gestern darüber aus, dass, trotzdem er so bemüht sei, die Leute immer mehr die Sachen über ihn läsen als seine eigenen“. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Jedes vorschnelle, pauschale Urteil über Wagner ist meist ein Fehl- oder Vorurteil! Die Wagnerliteratur ist voll davon.

 

Schon Friedrich Nietzsche hatte es erkannt: Richard Wagner ist „unter Deut­schen …ein Miss­verständnis“. Es war die Wagner-WitweCosima, die dieses Missverständnis zementiert, ja eigentlich in die Welt gesetzt hat. Sie hat Wagner sofort nach seinem Tod idea­lisiert, beweih­räuchert, ide­o­logisch ver­fälscht und mit Hilfe der Autoren Ihrer Hauszeitschrift, der „Bayreuther Blätter“ dem nationalsozia­listischen Wagnermiss­brauch ausgelie­fert, aus dem ihre Schwie­gertochter Winifred ab 1933 im Schulterschluss mit Hitler Kapital schlug. Dieser national­sozialis­tische Wagnerismus hat bis heute in Deutschland jede sachliche Wagner­rezeption in Deutschland verhindert. Vielleicht muss man Engländer sein, um sagen zu dürfen, was Peter Gay in seinem Buch über Deutsche und Juden schrieb: "Für den Historiker des modernen Deutschland ist die Su­che nach schäd­lichen, unheil­vollen oder gar tödlichen Ur­sachen pro­blematischer und ris­kan­­ter ge­worden, als es sonst un­ver­meidlich ist - sie wird ihm zu einer Zwangs­vorstellung, so dass er die ganze Vergangenheit nur noch als ein Vor­spiel zu Hitler sieht und jeden angeblich deutschen Charakterzug als einen Bau­stein zu jenem schrecklichen Gebäude, dem Dritten Reich"


Nicht zufällig wird Wagner außerhalb Deutschlands wesentlich un­verkrampfter und sach­li­cher als hierzu­lande betrach­tet und be­wertet. Der Wagner-Biograph Martin Gregor-Dellin hat bereits beim Inter­na­tio­nalen Wagner-Kolloquium 1983 in Leipzig darauf hingewiesen: „Das gestörte Ver­hältnis der Deut­schen zu Richard Wagner ist das gestörte Verhältnis zu ihrer Geschichte“. Bis heute mangelt es in Deutschland an einer sachlichen Ausein­andersetzung mit Wagners Antisemitismus. Bei aller Betroffenheit darüber, dass Millionen von Menschen unter der Herrschaft der National­sozialisten einem verbre­che­rischen Anti­semitismus zum Opfer fielen, einem Antisemitismus, der sich auch durch die Berufung auch auf Richard Wagner legitimierte:  Es gilt heute - mehr als ein halbes Jahr­hundert nach dem Holocaust - bei der Auseinandersetzung mit Richard Wagner dieselbe Sachlichkeit und Ratio­nalität walten zu lassen wie bei jedem anderen Komponisten oder Schriftsteller. Aber dem ist nicht so. Wer sich heu­te sachlich mit dem heiklen Thema des Wagnerschen - Antise­mitismus befasst, sticht in ein Wes­pen­nest. Er muss sich zwischen ex­trem polarisierten und ver­härteten Standpunkten bewe­gen. Und wer bei diesem Thema dif­fe­ren­ziert, wird leicht zum Wagner-Apologe­ten, zum Wagner-Gutbeter abge­stempelt, wird von der einen oder der anderen Seite als unbequem empfunden und ausgegrenzt, weil er das vorherrschende Ar­gu­men­ta­tions­schema, das politischen Interessen (um nicht zu sagen die Ideologien) folgt, stört. Walter Levin, der Gründer des Lasalle-Quartetts, der sowohl in jüdischer Tradition als auch in früher Kenntnis der Wagnerschen Werke aufgewachsen ist, hat mir einmal ein amerikanisches Sprichwort genannt: „Don´t bother me with the facts, my mind is made up!  Was so viel heißt wie: Störe mich doch nicht mit Fakten und Tatsachen, ich habe doch mein Vorurteil! Die Fakten inte­ressieren bei einem Vorurteil überhaupt nicht. Das Vorurteil dient einem ideologischen Zweck und es braucht die Konstruktion dessen, was mit Ruhe besehen zwar falsch ist, aber es nützt dem Zweck, den man verfolgt. Und so werden die ideolo­gisch begründeten Vorurteile – Wagner und sein Antisemitismus sind dafür ein Paradebeispiel - immerfort tradiert und werden unüberprüft übernom­men vom einen zum andern.“ Die meisten Bücher oder Aufsätze über Wagners Antisemitismus belegen es. Es sind immer die gleichen Vorurteile und Missverständnisse, die durch die Literatur geistern:

 

Vor allem Wagners vermeintlich jüdische Abstammung als Quelle sogenannten jüdischen Selbst­hasses. Dabei ist schon in den Zwanzigerjahren durch den Kustoden des Leipziger Stadtgeschichtlichen Museums, Walter Lange, nach­ge­wiesen worden, dass Wagner und seine Vorfahren rein protes­tantischer Abstammung sind. Wagner selbst hielt sich übrigens weder für einen Juden noch für einen leiblichen Sohn seines Stiefvaters Ludwig Geyer, wie gelegentlich behauptet wird. Nicht zuletzt die Cosima-Tagebücher belegen es. Von Wagners ins Auge stechenden Ähnlichkeit mit seinem Bruder Albert ganz zu schweigen. Wagner aggressiven, jüdischen Selbsthass zu unterstellen entbehrt jeder Grundlage. Auch Wagners Stiefvater Geyer, dem von Nietzsche in reiner Gehässigkeit jüdische Abstammung unterstellt wurde (Nietzsche hat später zugegeben, dass er da wohl etwas zu weitgegangen sei in seinem Wagnerhass aus enttäuschter Wag­nerliebe), auch Ludwig Geyer ist kein Jude gewesen. Auch seine Ahnengalerie ist durch und durch protestantisch, wie schon 1918 Otto Bournot in seiner genealo­gischen Studie nachwies. Im Übrigen findet sich in keinem jüdi­schen Namensbuch – und ich habe alle wichtigen eingesehen- der Name Geyer (im Gegensatz zu Adler). Auch der Historiker Jacob Katz hat 1985 mit Nach­druck darauf hingewiesen, dass Nietzsches "Ge­dankensprung von Geyer zu Adler, einem bekan­nten jüdischen Familien­namen", gänzlich willkürlich“ ist.

 

Immer noch und immer wieder ist von antisemitischen Karikaturen in Wagners Werk die Rede. Ich nenne nur den Holländer, Mime, Alberich, Beck­messer, Kundry und Klingsor. Wer sich die Mühe macht, diese Figuren mitsamt ihren Konnotationen einmal ge­nauer unter die Lupe zu nehmen, einschließlich Wagners Äußerungen zu ihnen, der wird feststellen, dass es nicht einen schlagenden Beweis dafür gibt, dass diese Figuren tatsächlich antisemitisch gemeint sind. In keiner der zahl­reichen Wagnerschen Er­läu­te­rungen seiner Werke ist die Rede von "jüdi­schen" Gestalten. Sollte Wagner einen Aspekt ausge­klammert, ver­gessen oder gar verheimlicht haben, der ihm wichtig gewe­sen wäre, der, nach Meinung Hartmut Ze­linskys, des obsessivsten Wag­­ner­verächters, gar die zentrale "Werk-Idee" sämt­licher Dramen darstellt? Es ist mehr als un­wahr­scheinlich! In Co­simas Tagebuch liest man am 17. November 1882: "In der Frühe heute gingen wir die Ge­stalten des R. des Nibelungen durch vom Gesichtspunkt der Racen aus, die Götter, die Weißen, die Zwerge, die Gelben (Mon­golen), die Schwarzen die Äthiopier; Loge der métis (also der Mischling, D.S) "[1]. Von Juden ist nicht die Rede. Hätte Wag­ner wirklich Alberich, Mime, Hunding oder Hagen als Judenkarikaturen verstanden wis­sen wol­len, er hätte ohne Zweifel, wie in anderen Zu­sam­­men­häng­en, im vertraulichen Ge­spräch mit seiner notorisch antisemitischen Frau kein Blatt vor den Mund genommen.

Was von den professionellen Wagnerverächtern immer wieder als geradezu kronzeugenhaftes Argument ins Feld geführt wird, ist die Erinnerung der Mahler-Vertrauten Natalie Bauer-Lechner, dass Gustav Mahler in der Figur des Mime im "Siegfried" die Persiflage eines Juden gesehen habe. Aber Hand aufs Herz: diese Erinne­rung sagt doch mehr über Mahlers Leiden am eigenen Ju­dentum aus, als über Wagners Rollen­intention. Und dass es einen "antisemitischen Code" gegeben habe zur Zeit Wagners, den jeder verstanden und deshalb in Wagners Werk antisemitische Figuren erkannt habe, wie Jens Malte Fischer noch kürzlich schrieb, ist nichts als unbewiesene Behauptung. Wagner hat übrigens in der Erstschrift des späteren "Siegfried" unmiss­verständlich gefordert, dass Mime eben gerade nicht "an eine Karikatur" erinnern dürfe. Es hätte der Allgemein­gültigkeit seiner Aussagen im Wege gestanden, Judenkarikaturen im „Ring“ zu zeigen. 

 

Im Mittelpunkt einer jeden Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus steht natürlich Wagners infame Schrift über „Das Judentum in der Musik“, die allerdings nicht Wagners einzige und schon gar nicht letzte Äußerung zum Thema ist. Wagner hat übrigens diesen Aufsatz in der Zweitauflage, zu der ihn seine militant anti­semitische Gattin Cosima drängte, entscheidend verändert, und zwar weg von unversöhnlichem Antisemitismus hin zu einer assimilations­freundlichen Tendenz im Sinne einer sozialistisch-gesamtgesell­schaftlichen Erneuerung. Juden und Nichtjuden hätten sich zu ver­ändern, um „ununterscheidbar“ zu werden, heißt es im Schlusssatz! Das ist eindeutig! Und das ist antikapitalistisch gemeint und nicht rassistisch.  Was Wunder: Wagner hat in seinem Aufsatz „Über das Judentum in der Musik“, der 1850 erstmals erschien, weitgehend Marxschen Anti­semi­tismus über­nommen. Er hat wortwörtlich abge­schrie­ben aus Karl Marxens Entgegnung auf Bruno Bauers Aufsatz „Zur Judenfrage“. Ein Gutteil von Wagners Antisemitismus ist nichts als Plagiat des Marxschen Antikapitalismus (um einen zeitgemäßen Ausdruck zu verwenden). Der Vergleich der Texte lässt keine Fragen offen. Es sei nur am Rande erwähnt, dass es schon bei den Frühsozialisten eine ausgeprägte antisemitische Tradition gab, in die sich Wagner durchaus einreihen lässt. Falle es Sie interessiert: Edmund Silberner hat darüber ein wichtiges Buch geschrieben, in dem das präzise dargestellt wird: „Sozialisten zur Judenfrage" (Berlin 1962). Dass die Kunst die kapitalistische Gesellschaft verändern solle, das hat Wagner spätestens in Paris gelernt, wo er ja im Kreis der Autoren der „Gazette musicales de Paris“ verkehrte, der der Publizist Schlesinger, Heinrich Heine, Franz Liszt und der Romancier Balzac angehörten. - Natürlich verfolgt Wagners Aufsatz über das Judentum in der Musik auch den Zweck einer Privatab­rechnung des auf deren Erfolg neidischen Wagners mit seinen Konkurrenten Meyerbeer und Mendelssohn. Und da zieht Wagner alle Register antisemitischer Stereotypen, schöpft aus dem unappetitlichen antisemitischen Arsenal seines Jahrhunderts, das ja von wenigen Ausnahmen abgesehen, durch und durch antisemitisch war.  Wie Cosima in ihren Tagbüchern festhielt, hat Wagner seinen frühen antisemitischen Standpunkt zum Ende seines Lebens hin weitgehend aufgegeben. Am 19.7.1882 gestand er Cosima „was man vor 20 Jahren über die Israeliten sagen durfte, das darf man beileibe jetzt nicht mehr.“  Vor allem die späten Bayreuther Schriften Wagner sind geprägt von Zurücknahmen. In dem Essay "Wollen wir hoffen" (1879) beispielsweise erklärt Wagner den Fortschritt der Wis­sen­schaften (der Natur­wissenschaften zumal) für fragwürdig[2], die kirchliche Religion für "impotent"[3], die Presse und alles Zeitungs­wesen für verderblich und er rech­net schonungslos mit dem preußisch-deutschen Reich und seinem Größenwahn ab, ja erklärt es "für unfähig..., die Kunst zu fördern" und damit unter Berufung auf Schiller als "barbarisch und durchaus kunstfeindlich"[4]. Die Deutschen, so das Credo Wagners - und darin zeigt sich eine tief­greifende Differenz zum späteren impe­ria­listischen, zu schweigen vom nationalsozialistischen Sendungsbewusstsein der Deutschen - seien "nicht zu Herrschern, wohl aber zu Veredlern der Welt be­stimmt"[5]. Wagner setzt Kunst und Kultur gegen Politik und Macht­staat­lichkeit. Ein Gedanke übrigens, den er schon in den „Meistersingern von Nürnberg“ Hans Sachs in den Mund legte. A apropos „Meistersinger“: Die Figur des Beckmesser wird immer wieder als Judenkarikatur bezichtigt. Aber es gibt eine Äußerung Richard Wag­ners vom 16. März 1873, die jeden Ver­dacht, Beckmesser sei die Ka­ri­ka­tur ei­nes jüdischen Kritikers, ad absurdum führt. Cosima hat sie überliefert: "mit der ehr­wür­digen Pedanterie, dacht ich mir den Deutschen in seinem wahren Wesen, in seinem besten Licht." Ein Wort an dieser Stelle zu Wagner „Weltabschiedswerk“ Parsifal: Ende April 1877 hatte Wagner das "Parsifal"-Textbuch abgeschlossen, im Dezember des Jahres wurde es gedruckt. Lange bevor er Gobineau las. Wagner, obwohl zunächst fasziniert von den Gedanken Gobineaus, lehnte letztlich dessen Rassentheorien aber doch ab. Ganz unmissverständlich kommt das zum Ausdruck in einer No­tiz Cosimas vom 14. Februar 1881: man wisse, so habe Wagner zu ihr gesagt, "dass es auf et­was anderes ankommt als auf Racenstärke, gedenkt man des Evan­geliums".[6] Am 17. Dezember des­selben Jah­res notiert sie eine weitere diesbezügliche Be­merkung Wagners: "Eines aber ist sicher, die Racen haben ausge­spielt, nun kann nur noch, wie ich es gewagt ha­be auszudrücken, das Blut Christi wirken."[7] Und am 23. April des fol­genden Jahres schließlich wirft Wagner es Gobineau vor, "das ei­ne ganz ausser acht ge­lassen zu haben, was einmal der Menschheit ge­geben wurde, einen Heiland, der für sie litt und sich kreu­zigen ließ!"[8] Diese Zitate belegen im Übrigen, was auch die drei in den Bayreuther Blättern veröffent­lichten Begleitschriften (die oft ignoriert werden, obgleich es Rücknahmen des früheren Antisemitismus sind) zum "Parsifal" er­läutern, dass das letzte und radikalste Er­lö­sungs­drama Wagners mit der Musik und mit verkappter Religion und mit den „Symbolen des christ­lichen My­thos, mit den Worten von 'Brot' und Wein und den“ – Unbehagen auslösenden  – „Ge­sängen vom Blut des Erlösers den alten romantischen Traum der Ein­heit von Religion und Kunst"[9] vollen­det, hinzielend (im Sin­ne seines absonderlichen Rege­ne­rationsgedankens) auf ein uto­pi­sches Urchristentum, das durch Par­sifals Mitleids­tat "Entsagung" wiederherge­stellt wird, nicht aber durch die vermeintliche Vernichtung des Jüdischen.

 

Es geht im "Parsifal" überhaupt nicht um "Rassisches" oder Rassisti­sches, um den Ge­­gensatz von Judentum und Christentum, sondern um einen ganz anderen Gegensatz: den von (heidnischer) Sinnlich­keit und christlicher Askese, von Sexua­lität und Triebverzicht, Egoismus und Mitleid, Eros und Agape. Und "es kommt auf der Achse des Gegensatzes von "Norden (Gralsburg) und Süden (Klingsors Schloss) eine andere Opposition ins Spiel: die von christlich-europäischer und arabisch-islamischer Welt. Das Bühnenweihfestspiel ist land­schaftlich an einer mythischen Grenze von Okzident und Orient, von 'Gotischem' und 'Arabischem', von christlicher und islamischer Welt angesiedelt", wie Dieter Richter verdeutlicht.[10]  Wobei das 'Nördliche' "für die Zivilisation des christ­lichen Europa" stand, "für die Bändigung der Sinnenlust, für Askese und Ent­sagung, das 'Östliche' für Sinnlichkeit und Rausch".[11]

 

Im Übrigen ist Kundry ein weiblicher Archetyp, das weibliche Pendant zu Ahasverus, der vieles in sich vereinigt, nicht nur das Jüdische. Kundry wird im Text selbst vornehmlich als "Heidin" und als "Zauberweib"[12] in wech­selnden Gestalten be­zeichnet. Die Jüdin He­ro­dias ist ja nur eine der Ge­stalten, in denen sich ihr Archetyp ver­körperte. Kling­sor verrät es: "Ur=teufelin! Höllen=Rose! Herodias warst du, und was noch?/ Gundryggia dort, Kundry hier"[13] Wie Dieter Borchmeyer zu Recht ausführt, bringt Wagner hier "die Idee je­ner Wanderschaft mit der indischen Vorstellung von der See­­len­wan­derung, der endlosen Folge von Wiedergeburten, und - wich­tiger noch - mit dem ewigen Kreislauf der Natur in Ver­bin­dung. Kundry hält ja re­gelmäßig einen förmlichen Winterschlaf. In jedem Frühjahr erwacht sie mit der Natur zu neuem Le­ben. Sie ist also auch so etwas wie eine Ver­körperung der erlösungsbedürftigen Na­tur. Ihre Erlösung durch die Taufe löst bezeichnenderweise den Karfreitagszau­ber aus, in dem sich symbo­lisch die Erlösung auch der außermenschlichen Natur ausdrückt."[14]

Wagners Kundry ist (wie die Herodias im Mittelalter) nichts an­de­res als das weibliche Pendant zur Gestalt des Ahasverus, eine "Ver­wünschte ... zu büßen Schuld aus früherm Leben"[15]. Sie hat Jesus auf seinem Leidensweg verlacht und muss sich zur Strafe "end­los durch das Da­sein"[16] quälen, fin­det weder Ruhe noch Erlö­sung. Wag­­ner schreibt bereits im Prosaentwurf von 1865, ganz im Scho­pen­­hauer­schen Sinne: "Kundry lebt ein unermessliches Leben unter stets wechselnden Wiedergeburten, in Folge einer alten Ver­wün­schung, die sie, ähnlich dem 'ewigen Juden', dazu verdammt, in im­mer neuen Gestal­ten das Leiden der Liebesverführung über die Män­ner zu bringen."[17]


Sie verkörpert mit ihrer verfüh­re­ri­schen Sinnlichkeit die Antithese der christlichen Ethik selbst­losen Mitlei­dens, die im Zentrum des "Par­sifal" steht. Daraus er­gibt sich ihre drama­turgische Funktion. Erlöst wird im "Parsifal" von Trieb­haf­tigkeit, nicht vom Ju­dentum. Mein verehrter Lehrer, Peter Wapnewski hat es auf den Punkt gebracht:  "Um sich vor der zer­störe­rischen Hef­­tigkeit des mächtigsten aller Triebe zu schützen, um ihn zu bän­digen, zu pönalisieren, beschwor Wag­ner ein Reinigungs-Exer­zitium, veranstaltete er ein flagel­lan­tisches Fest der Selbst­kasteiung, der Selbstbestrafung durch die pathe­tische Zelebrie­rung christlicher Riten und ihrer sinnenabtötenden Postulate. Ein Ver­­such, den Klingsor in uns, die Kundry in uns zu überwinden."[18] Man darf den "Parsifal" daher (auch) als ein "Kunst-Drama der Sin­­nen­abtötung als Rettung vor dem privaten Drama der Sin­nen­lust"[19] (Peter Wapnewski) begreifen. Alles in allem ist Kundry die wohl vielschichtigste mythische Ge­stalt des Wag­ner­schen Bühnenpersonals. Eine dezidiert jüdische, zumal eine mit „jüdischen“ Attri­buten oder negativen Affekten besetzte ist sie jedoch gerade nicht. Auch wenn Wagner in Kundry (auch) die mythologisch vorgege­bene Jüdin Herodias sehen mag, er gibt ihrer Musik ein immenses, eindeutig charakteri­sierendes Mit­leids­potential. Wie sollte Wagner auch ausgerechnet die Ge­stalt der Kun­dry negativ cha­rak­­te­risieren, wo doch Muse und Vorbild ge­rade dieser Gestalt seine letzte (heimliche) Geliebte, Judith Gautier gewe­sen ist, wie sein Brief­wechsel mit ihr bezeugt [20], die Tochter des mit Hein­rich Heine befreundeten Schriftstellers Theo­phile Gautier, der wahr­scheinlich selbst jüdische Vorfahren hatte, und Ehefrau des Kri­tikers Ca­tulle Mendès, der "ein sephardischer Jude"[21] gewesen sein soll.

 

Wagner verstieg sich in privaten Äußerungen immer wieder zu anti­semi­tischen Ausfällen, die einen sprachlos machen. Er war nun mal ein ungehobelter, impulsiver Sachse, der oft ohne nachzudenken, drauf­los­redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Und sich damit immer wieder das Maul verbrannte.  „Noblesse, Anstand, die habe ich nicht“[22], bekannte er Cosima einmal. Das war wohl einer der selbstkri­tischsten, selbstironischsten Bekenntnisse seines Lebens


An dieser Stelle eine grundsätzliche Bemerkung: Man muss wissen, dass einer der wesentlich psychischen Mechanismen Wagners im Leben wie im Denken die Dialektik von Anziehung und Absto­ßung war, eine Mischung aus Verfolgungswahn und Neid, Minderwertig­keitsgefühl und Größenwahn. Zu Wagners Psychomechanik gehörte es, Menschen, die er heimlich bewunderte, aus Neid und Missgunst öffentlich schlecht zu machen. Nur so konnte sein narzisstisch hybrides, aber immer absturzgefährdetes Selbstbewusstsein überleben. Das betriffet Heine wie Offenbach, Meyerbeer wie Mendelsohn.

Zu Recht nannte Thomas Mann Wagner den „schnupfenden, sächsischen Gnom“ mit dem Bombentalent und dem schlechten Charakter.“ „Ein sehr begabter Mensch, aber auch etwas Friseur und Charlatan.“ (so charakterisierte Gottfried Keller Richard Wagner“

 

 

Der größte Irrtum, der einem unterlaufen kann, wenn man über Wagners Antisemitismus redet, ist die Torheit, ihn als isoliertes Phänomen zu betrachten!

 

Es gibt im Abendland seit mindestens 2000 Jahren Anti­semi­tismus. Vergessen wir nicht den christlichen Antijuda­ismus, der seit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 n. Chr. mehr oder weniger zum Grundbestand der christlichen Theologie ge­hört. Auch Luthers ungeheuerliche Judenhetze, auch Bachs Johan­nespassion gehört da hinein. Aber – um zu Wagners Zeit zurückzukehren:  Auch die nahezu gesamte belletristische Literatur des 19. Jahrhundert war durch und durch antisemitisch.  Ich nenne nur einige deutsche Autoren: Wilhelm Raabe, Gustav Freytag, Ludwig Feuerbach, Georg Herwegh, Franz Dingelstedt, Felix Dahn, Fritz Reuter, Berthold Auerbach, ja sogar Theodor Fontane und noch Thomas Mann befleißigen sich ungeniert offener antisemitischer Stereotypen in ihren Erzählungen. In England war es nicht anders. Denken Sie an Dickens, Thackeray, Disraeli. Auch in Frankreich findet sich Antisemitismus zuhauf. Beispielsweise bei Chateaubriand, Victor Hugo, Eugene Sue (er schrieb den Roman Le juif errant/Der ewige Jude), die Gebrüder Goncourt nicht ausgenommen, aber auch Balzac, Zola, Maupassant und viele andere haben ungeniert und ausgiebig altbekannter antijüdische Stereotypen übernommen und verarbeitet. Nicht zu vergessen die russische Literatur, man denke nur an Gogols und Dostojewskis Judengestalten. Die gesamte euro­päische Literatur vor und nach Wagner verwendete antisemitische Klischees und Stereotypen, wie sie seit Jahrhunderten in Europa gang und gäbe waren. Und Richard Wagner war ein ungemein fleißiger Leser!


Martin Geck, einer der besten Wagnerkenner, hat in seiner Wagner-Monogra­phie denn auch zu bedenken gegeben: „Wagners Antisemitismus ist ein Gewächs aus jenem Zaubergarten, den man Abendland, Zivilisation, Moderne oder wie auch immer nennt. … Dort wachsen Orchideen neben fleischfressen­den Pflanzen, Hegels neben Hitlers – eins ist ohne das andere nicht zu haben. …Wer Wagners Werk allzu entschlossen mit seiner verzerrten Rezeption durch Nationalismus und Nationalsozialismus gleichsetzt, mystifiziert in zwei Richtungen: er lenkt von stärkeren gesellschaftlichen Kräften ab, auf die sich der Nationalsozialismus stützen konnte und verweigert sich zugleich der Einsicht, dass es Abendland, Zivi­lisa­tion, Moderne nur als Ganzes gibt“.

 

Es gab in der Wagnerzeit viele antise­mi­tische Hetz- und Kampfschriften, die noch viel schlimmer waren als Wagners Schrift über das „Judentum in der Musik“. Und die bereits das ganze menschen­verachtende Vokabular gebrauchten, dessen sich später Hitler und die Seinen bediente. Ich nennen nur Namen wie Heinrich Treitschke, er schrieb den Aufsatz “Die Juden sind unser Unglück“ oder Paul de Lagarde, der die Juden mit Trichinen und Bazillen vergleicht, und Eugen Dühring, der die Angst vor einer „Weltverschwörung“ der Juden schürt. Aber auch Wilhelm Marr, Herrmann Ahlward, Julius Langbehn und Paul de Lagarde gehören zu den direkten Zuarbeitern Hitlers. Die Bausteine zum Hitlerschen Antisemitismus mit sei­ner Ver­nichtungsideologie waren in den beiden Jahrzehnten vor dem er­sten Welt­krieg bereitgestellt worden. Zumin­dest ein Teil der nichtjüdi­schen Deutschen sym­pathisierte mit diesem aufkommenden radikalen Anti­semitismus. Vorübergehend verzeich­neten anti­semitische Parteien be­achtlichen Zulauf. So etwa Stoeckers "Christlichsoziale", die "Soziale Reichspartei" Ernst Henricis, aber auch die "Antisemitische Volks­par­tei" Otto Boeckels.

 

Der mit Wagners Ver­öf­fent­lichung des Aufsatzes ausgelöste Wagner-Streit, der eine Flut von Pro- und Contra-Schriften auslöste, hat die Gemüter zwar erhitzt, auch das Wagner-Pu­blikum nachhaltig gespalten, aber eine auslösende, politisch wirkungs­mächtige Funktion im Entstehungs­prozeß des modernen deutschen Anti­semitismus kann man der Schrift, kann man Wagner nicht bescheinigen. Der israe­lische Historiker Jakob Katz hat zurecht darauf hingewiesen: „Die ... spä­ter aufflackernde Agitation gegen die Juden nährte sich aus völlig anderen Quellen".


Der Historiker Hans Jürgen Puhle hat diese anderen Quellen genau benannt: Ein­mal war es eine "idealistisch-philoso­phisch mo­tivierte Richtung, die von einem historisch und allenfalls öko­nomisch (aber nicht biologisch) verstandenen volks­tümlichen 'Natur'-Be­griff her gegen die Juden argumentierte und an der sich sowohl Liberale als auch Konservative beteiligten". Zum Zweiten "in der 'Berliner Bewe­gung' um Stoecker eine wesentlich sozialpolitisch orientierte Richtung des Antise­mitismus, die von konservativen Kreisen getra­gen wurde"; und drittens "der radikale Rassen- und Radauantisemi­tismus, der seit den sieb­ziger Jahren zuneh­mend hervortrat und - zunächst nur von einzelnen Agi­tatoren vertreten - allmählich zur Organisation ver­schiedener Antisemiten­parteien, -komitees und -clubs führte"[23].


[1]     CT Bd.4. S. 1051.

[2]     "Wenn unsere Wissenschaft, der Abgott der modernen Welt, un­seren Staatsverfassun­gen so viel gesunden Men­schen­verstand zuführen könnte, dass sie z.B. ein Mittel ge­gen das Verhungern arbeitsloser Mitbürger auszufinden ver­möchte, müssen wir sie am Ende im Austausche für die im­potent gewordene kirchliche Religion dahinnehmen. Aber sie kann gar nichts". RWGS Bd 10, S. 124.

[3]     ebd.

[4]     ebd., S. 121.

[5]     ebd. S. 130.

[6]     CT Bd. 4, S. 690.

[7]     CT Bd. 4, S. 850.

[8]     CT Bd. 4, S. 936.

[9]     Paul Arthur Loos: Richard Wagner. Vollendung und Tragik der deutschen Romantik, S. 204 f.

[10] Dieter Richter: Klingsors Zaubergarten. Eine exotische Landschaft in Richard Wagners Parsifal und der 'Mythos Ravello'. In: Eros und Literatur. Festschrift für Gert Sautermeister, hrsg. von Christiane Solte-Gesser, Wolfgang Emmerich, Hans Wolf Jäger, Bremen 2005, S. 191-201.

[11] ebd. S. 195

[12]   Richard Wagner: Parsifal, in: WGS Bd. 10, S. 329.

[13]   ebd. S. 346.

[14]   Dieter Borchmeyer: Wie antisemitisch sind Wagners Musik­dra­men? op. cit., S. 52.

[15]   ebd. S. 330.

[16]   ebd. S. 360.

[17]   Parzival-Prosaentwurf. (Tagebuchaufzeichnung vom 29. Au­gust 1865), in: Richard Wagner. Das braune Buch, hrsg. u. kommentiert von Joachim Bergfeld, Zü­rich/Freiburg 1975, S. 62.

[18]   Peter Wapnewski: Das Bühnenweihfestspiel, in: Wagner-Hand­buch, S. 344; siehe auch das letzte Kapitel in Peter Wap­news­ki: Tristan der Held Richard Wagners, Berlin 1981. 

[19]   Peter Wapnewski: Das Bühnenweihfestspiel - Par­sifal, in: Wagner-Handbuch, S. 343.

[20]   So etwa bittet Wagner Judith in einem Brief vom 1. 10. 1877: "vielleicht legen Sie etwa ein halbes Dutzend Pa­pier­sachets bei, damit ich sie zwischen meine eigene Mor­gen­wäsche stecken kann, so verschaffe ich mir eine innige Be­zie­hung zu Ihnen, sobald ich mich ans Klavier setze, um die Musik zu Parsifal zu komponie­ren." In: Die Briefe Ri­chard Wagners an Judith Gautier, hrsg. von Willi Schuh, Zürich/Leipzig 1936, S. 146 f.

[21]   Robert Gutman: Richard Wagner, op. cit., S. 444.

[22]  CT, Bd. 2, S. 1076

[23]   Hans Jürgen Puhle: Agrarischer Interessenkonflikt und Kon­servativismus im wilhel­minischen Reich 1893-1914, op. cit., S. 112.

Damit kommen wir zur Wirkungs­geschichte des Wagnerschen Antisemitismus. Winfried Schüler hat in seiner weg­­weisen­den Arbeit über den Bay­reuther Kreis eigentlich alles dazu gesagt: Was Wagner „an Ur­sprüng­lich­keit, an Größe und Ungebundenheit des Denkens be­sitzt ... verengt sich bei den Jüngern des Bayreuther Kreises, das sind Cosimas Hausau­toren der „Bayreuther Blätter“, zum Dogma, zur Formel, zum Pro­gramm. Zu­gleich mündet es ein in einen breiten Strom ähnlich gestimmter Er­neu­­erungsbe­strebungen."  Zu ergänzen ist, dass wesent­li­che Ele­men­te des Wagnerschen Denkens von den Autoren des Bay­reuther Kreises, wie auch von den späteren national­sozia­listi­schen Wagner-Schriftstellern ignoriert oder gar in ihr Gegenteil ver­kehrt wurden, beispielsweise Wagners utopisch-so­zialistische Ansichten, sein altersradikaler Pazifismus, seine rebelli­schen Züge, sein Kosmopolitismus, seine kritischen Äußerungen über Deutschland und die Deutschen und Wagners Misstrauen gegenüber der deutschen Staatsmacht und dem Machtstaat". Wagner wurde idolisiert zum Religionsgründer eines germanischen, anti­se­mi­tischen, völkischen Christen- und Deutschtums. Damit machten sie sich zu den geistigen Wegbah­nern des Nationalsozialismus. Einer der maß­geb­li­chen Mittler dieses nationalistisch-antisemitischen Wagnerbildes war Houston Ste­ward Chamberlain, der Wagners Tochter Eva 1908 heirate und damit zu des toten Wagners Schwiegersohn wurde und un­mit­telbaren Zu­gang zum Allerheiligsten Bayreuths, zu Wahnfried erhielt. Er wurde zum innigsten Vertrauten der Gralshüterin Cosima. Chamberlain hatte sich aber schon dem preußischen Hofe angedient und bei Kaiser Wilhelm und dem Kronprinzen für eine starke Wagner-Begeisterung gesorgt. Und er hat die Brücke vom Hause Wagner zu Adolf Hitler geschlagen. In seiner Schrift "Die Grund­lagen des neun­zehnten Jahrhunderts" hatte er mit explizit rassistisch-antisemitischer, natio­nalistischer Kultur­ge­schichts­schreibung weite Teile des Bildungsbür­gertums ideologisch auf das Kommende vorbereitet. Er redete einer nor­disch-deutschen Rasse, zu deren künstlerischem Seher er Wagner er­klärte, das Wort und hatte damit gewisser­maßen den Grundstein ge­legt für die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie in Alfred Ro­senbergs Buch "Der Mythus des 20. Jahrhunderts" ihren bezeichnenden Ausdruck fand. Chamberlain hat Wagners antijüdische Haltung ins kämpferisch-unversöhnliche Extrem verkehrt und mit seiner eigenen "arischen" Blutideologie unterlegt, die die Assi­milation der Juden von vornherein ausschließt. Mit Wagners Vorstellungen hatte das nichts mehr zu tun. 1930 starb der Wagner-Sohn Sieg­fried, der seit 1924 mit Winifred Williams ver­heiratet war. Seine Frau trat das Wagner-Erbe an und übernahm das Amt der Fest­spiel­führung, das sie bis 1944 ver­sah. Sie machte sich bewusst zum Steig­bügelhalter Hitlers. Wie die bildungsbürgerliche, wagnerianisch angehauchte Großwirtschaft Hitler finanziell unter­stützte, so half ihm Bayreuth ideolo­gisch: indem es ihn bürgerlich respektabel machte" (So hat es der Historiker Ernst Hanisch treffend formuliert). Und Hitler finanzierte das marode Bayreuth, das Winifred mit seiner Hilfe vor dem Konkurs rettete. Was Hitler angeht: Er hatte gegenüber Wagner übrigens eine äußerst selektive Wahr­nehmung an den Tag gelegt. Er berauschte sich lediglich an den mythischen Oberflächenreizen des Wagnerschen Werks und seiner Musik. Die moderne, gesell­schafts­kritische, psychologische und politische Dimension der Werke hat er nicht wahrgenommen. Und schon gar nicht, dass Wagner vor allem scheiternde Helden und eine korrupte Welt der Mächtigen auf die Bühne brachte. Dass Hitler die Welt glauben ma­chen wollte, er habe Wagner als seinen einzigen Vor­läufer emp­funden und sich als dessen Vollender begriffen, bezeugt nicht mehr als seinen Grö­ßenwahn und sein Unverständnis Wagners. Wagners bedeutete ihm "nicht viel mehr als ein überaus wir­kungsvolles aku­stisches Mittel zur Steigerung theatralischer Effekte", vor allem Propaganda-Effekt in der masssen­wirksamen Inszenierung des NS-Staates. Die gezielte ideologische Verein­nahmung, die Einpassung Wagners ins ideologische Raster der Na­tionalsozialisten, besorgten seine intellektuel­len Helfershelfer. Schon 1920 hatte der Musikologe Karl Grunsky – später einer der eifrigsten Nazis - in seinem Buch "Richard Wagner und die Juden" Wagner zum Vorreiter des modernen Antisemitismus erklärt und sein Werk als "ein einziges Preislied auf alles Deutsche" bezeichnet.  Ein Blick in Wagners europäische Biographie oder in Wagners Briefe genügt, um diese absurde Behauptung Lügen zu strafen.


Als Wagner nach elf Jahren Exils, begnadigt vom sächsischen König, zum ersten Mal wieder deutsche Grenzen überschritt, bekannte er seinem Zürcher Mäzen Otto Wesendonck: „Von Ergriffenheit beim Wiederbetreten des deutschen Bodens habe ich – leider! – auch nicht das Mindeste verspürt“.[1] In einem Brief an Franz Liszt vom 13. September 1860 schrieb er: „Mit eigentlichen Grauen denke ich jetzt nur an Deutschland und meine für dort berechneten zukünftigen Unternehmungen. Verzeihe es mir Gott, aber ich sehe dort nur Kleinliches und Halbheit in Allem und Jedem, (...) Glaub' mir, wir haben kein Vaterland! Und wenn ich ‚deutsch’ bin, so trage ich sicher mein Deutschland in mir...“[2]  Es ließen sich unzählige Briefe Wag­ners zitieren, in denen sich seine mit zunehmendem Alter steigernde Aversion gegen Deutschland und die Deutschen ausspricht. Wagner hatte sich in Deutschland im Grunde nie zuhause gefühlt. Schon der 22-jäh­rige Student Wagner bekannte sei­nem Leipziger Studienfreund Theodor Apel: „Hin­weg aus Deutschland gehöre ich!“[3] Und wenn Karl Marx den Komponisten Wagner als deutschen „Staats­musikanten“[4] bezeichnete, so hat er ihm damit ein völlig falsches, aber folgenreiches, bis heute nicht abzulösendes Etikett angeheftet. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat dem heftig widersprochen und behauptet, dass Wagner „nirgendwo weniger hingehört als nach Deutsch­land“, ja dass Wagner „unter Deutschen bloß ein Missverständnis ist“.[5]  Nietzsche hat Recht gehabt! Dass Wagner missbraucht werden konnte, liegt auf der Hand. Die Wiederbelebung germanischer Mythenstoffe und mittel­alter­licher Epen, Wagners Betonung des "Volkshaften" und "Deutschen" aus dem Geiste der romantischen Tradition, sein ethisch-ästheti­scher Erneu­erungs­wille, sein Kulturpessimismus und sein in privaten Äußerungen wie in theoretischen Schriften ver­nehm­barer Anti­semi­tismus konnten natürlich im Zeitalter des Nationalismus starke völ­kische, nationalistische Impulse und Affekte auslösen. Allerdings nur unter Aus­blendung alles dem Wi­der­­sprechenden, alles Religiösen, Revo­lutionären, Antibür­gerlichen, ja Anar­chisch-Staatsfeindli­chen, das ja auch in Wagner enthalten ist. Und das ist eine der wichtigsten Einsichten der intensiven Beschäftigung mit Wagner, dass er voller Widersprüche ist.


Wagner war Sozialist und Kapitalist, Großbürger und Bohemien, er war Antisemit und doch befreundet mit vielen Juden und all das gleichzeitig. Er hat sich die schrecklichsten Scherze über Juden erlaubt. Und hat doch Cosima gegen­über eingestanden, "dass die Juden schließ­lich doch besser seien als die Bil­dungs­philister".[6] Als er sie einmal mit Katholiken und Protestanten verglich, bezeichnete er sie Cosima gegenüber als "die aller­vor­nehmsten"[7]. Nicht zu reden von den wiederholten Äußerungen großer Wertschätzung von Werken etwa Mendelssohns[8], Halévys[9] oder Heinrich Hei­nes[10]. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichen, diese Widersprüche in Person und Werk Wagners führen so manchen Wagnerverehrer wie Wagnerverächter immer wieder aufs Glatteis.

Es gilt, noch einmal den israelischen Historiker Jakob Katz zitieren. In seinem Buch über „Richard Wagner als Vorbote des Antisemitismus“ heißt es: Die Deutung Wagners "aufgrund der Gesinnung und der Taten von Nachfahren, die sich mit Wagner identifizierten, ist ein unerlaubtes Verfahren."  Bei der nach 1945 einsetzenden, rück­blickenden Interpretation Wagners durch –Theodor W. Adorno, Hartmut Zelinsky, Paul Lawrence Rose, Marc Weiner, Joachim Köhler, Jens Malte Fischer und wie sie alle heißen, "han­delt sich, so“ Jakob Katz, „um eine Rück­datierung, ein Hineinlesen der Fortsetzung und Abwandlung Wag­nerscher Ideen durch … Hitler in die Äußerungen Wag­ners selbst". Wagner dem "Führer" als dessen Propheten, Vorläufer oder Ahn­herrn auszu­liefern, wäre Hitlers postmor­taler Tri­umph. Der soll ihm nicht gegönnt werden! Wag­ner heute noch durch die Optik Hitlers wahrzunehmen ist wis­senschaftlich un­haltbar, und, wofern gegen bessere Einsicht unternom­men, mora­lisch infam.

 

 

 

Der Text (überarbeitet) folgteinem Vortrag, gehalten in Leipzig, Berlin, Bayreuth 2013. Einzelheiten, Weiterführendes und Nachweise sämtlicher Zitate in meinem Buch „Richard Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht“ Darmstadt 2013 (aktualisiert, ergänzt und auf dem neusten Stand der Wissenschaft). Die Erstausgabe erschien in Würzburg 1993 (Dissertation), dann neu in Berlin 2000 „Richard Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht. Eine Korrektur“.

 

 

Auszug aus meinem Buch „Richard Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht“:

Wagners Schrift „Über das Judentum in der Musik“ im antisemitischen Umfeld Deutschlands

 

Was man von seinen Bühnenwerken mit Sicherheit sagen kann, dass sie frei sind von jeglichem Antisemitismus, lässt sich nun von Wagners theo­retischen Ab­hand­lungen wahrlich nicht behaupten. Doch es gilt das, was als Anti­semitismus in Wagners Schriften eindeutig zu sein scheint, einer dif­fe­renzierten und genauen Be­trachtungsweise zu unterziehen, um sich vor vor­eiligen Schlüssen zu hüten und das heißt vor allem, den exakten Stel­lenwert von Wagners Ju­denfeindlichkeit im Prozess der Entstehung des modernen deutschen Anti­se­mitismus zu­ bestimmen.  Mit dem Aufsatz über "Das Judentum in der Musik" hat sich Wagner 1850 erstmals öffentlich als Antisemit zu er­kennen gegeben. Er hat damit die Gemüter der musikalischen Welt heftig erregt und im Grunde bis heute in zwei Lager gespalten. Als er diese infame Schrift 1869 als selbständige "Judenbroschüre" noch einmal heraus­gab, (über die Gründe der Wiederveröffentlichung lässt sich nur spe­kulieren, gewiss hat Cosima An­teil daran[11],) hat er den Aufsatz einer ent­schei­denden Über­arbeitung un­ter­zogen. Einer Überarbeitung im Sinne von Verdeutlichung und Re­la­tivierung des tat­sächlich Intendierten (das in der Lei­den­schaft­lichkeit der Debatte oft falsch gedeutet wird). Wagner erweist sich aber mit dieser Schrift (die entgegen anderslautender Meinungen keinesfalls sein Alpha und Omega in der Judenfrage dar­stellt) nicht als der singuläre und exponierte An­ti­semit, als der er oft be­zeich­net wird, sondern er steht - noch im Vorfeld der eigentlichen "Inkubations­periode der antisemitischen Bewegung"[12] in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre - durchaus in der Tra­dition utopisch-so­zialistischen Denkens mit grundsätzlich ver­söhn­­licher In­tention, so gehäs­sig und charakterlos seine ganz persönlichen Invek­tiven gegen Meyerbeer und Mendelssohn in dieser Schrift unbezweifelbar sind. Bei genauerem Hinsehen übri­gens hat Wagners Zürcher Judenschrift in der Tat "Kennzei­chen ei­nes harm­losen Dilettanten"[13] (Horst Althaus).

"Das Judentum in der Musik" ist ohne Frage eine wütende und eine unverzeihliche Diatribe, doch ihr kommt weder im Leben Wagners, noch im wirkungs­ge­schicht­lichen Sinne die Be­deutung zu, die ihr oft angelastet wird. Schließlich sind Wag­ners spätere Auf­­­sätze in den Bayreuther Blättern, die sich mit der Ju­denfrage beschäftigen, gekennzeichnet von deutlichen Gesten der Rücknahme, ja Kehrt­wen­de. Um den wahren Stellenwert der Judenschrift Wagners zu ermitteln, bedarf es daher einer sehr differenzierten Einordnung dieser Schrift in den geschichtlichen Kontext, das heißt konkret in den Prozess der Ent­stehung des modernen Antisemitismus in Deutschland. Deshalb sei der Analyse des Aufsatzes über "Das Judentum in der Musik" zunächst ein Abriss dieses historischen Prozesses vorangestellt.


Mit der Ausbildung des modernen Verfassungsstaates war in West­europa die Emanzipation der Juden aus der Isolierung des Ghettos, in die sie die christliche Ständegesellschaft bis ins 18. Jahrhundert gedrängt hatte, eine fast selbst­ver­ständliche Folge. In Ost und Südosteuropa - vor allem in Russland - dagegen, wo es im 18. und 19. Jahrhundert nicht zur Entste­hung moderner Ver­fas­sungsstaaten kam, verblieben die Juden noch lange in der seit dem Mittelalter bestehenden Situation der Rechtlosigkeit, der Dis­kri­minierung und Isolierung. Sie wurden dort immer wieder verfolgt und von Pogro­men bedroht, als in Deutschland bereits die Assimilation weit fortge­schritten war. So wurden gerade für die Juden Ost­europas im neunzehnten Jahrhundert, aber auch noch zu Beginn des zwan­zigsten Jahr­hunderts, die Staaten des Deutschen Bundes bzw. das Deutsche Reich be­vorzugtes Ziel der Auswanderung.


Seit Napoleon in den Rheinstaaten mit dem Import der Ideale von 1789 die Ghettos öffnete und eine erhebliche Verbesserung der Lage der Juden herbeiführte, ent­wickelten sich auch in den übrigen Terri­torialstaaten Deutschlands trotz nach wie vor ständestaatlich-feudalistischer Elemente der Politik und des Gemeinwesens bür­ger­lich-liberale Gruppierungen, die für die Eman­zi­pa­tion der Juden eintraten. 1812 schließlich setzten der preußische Staatskanzler Hardenberg und Wilhelm von Humboldt die von fortschrittlichen Intel­lektuellen vorberei­teten Emanzipationsbe­strebungen rechtlich in die Tat um: sie schufen das Gleichstellungs­edikt für die Juden, ein Eman­zi­pationsgesetz, das Friedrich Wilhelm der Dritte 1812 verkün­dete. Auch die Frankfurter Nationalversamm­lung beschloss 1848/49 die Gleich­be­rechtigung der deut­schen Juden. 1869 wurde für den gan­zen Bereich des Nord­deutschen Bun­des die gesetzliche Gleichstellung der Juden beschlossen, 1871 wur­de sie schließlich auch in Bayern eingeführt. Die Eman­zipationsgesetzgebung im Deut­schen Reich war damit abgeschlossen. Die Assimilation der Juden vollzog sich relativ schnell: sie drängten in den Mittelstand, ins wohl­habende Bürgertum und nahmen aktiv an der Gestaltung des kul­tu­rellen, aber auch des politischen Lebens teil. Naturgemäß standen die Juden poli­tisch vor allem auf Seiten des Liberalismus und der Demo­kratiebewe­gun­gen. Dennoch gab es - parallel zu den gesell­schaft­lichen Fortschritten - auch emanzipations- und assimilations­feindliche Tendenzen: in erster Linie im aufkommenden Natio­na­lismus. In dem Maße, wie die Armeen der Fran­zösischen Revolution nach Frankreich zurückgedrängt wurden, geschürt auch von der Met­ter­nichschen Restauration, entstand der deut­sche Natio­nalismus als vorwiegend antifranzösischer Affekt, der Libe­ra­lismus, Parlamentarismus und Demokratie als "undeutsch" empfand. In den Schriften Johann Gottlieb Fichtes, Ernst Moritz Arndts und Fried­rich Ludwig Jahns äußerte sich dieser in mystischer Überhöhung einer angeb­lichen deutschen Abstammungs- und Blut­ge­meinschaft. Das auf­­kei­mende deutsche Nationalbewusstsein mobilisierte Aggressi­vität und Aus­gren­­zungstendenzen gegenüber allem ver­meint­lich Un­deut­schen. Hartwig von Hundt-Radowsky, einer der radikalen na­tio­nalistischen Demagogen jener Jahre, plädierte 1819 in seinem "Ju­denspiegel" für die Entmannung der männlichen Juden und for­derte: "Am besten werde es jedoch sein, man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer."[14] Judenfeindliche Demon­strationen in den preußischen Rhein­provinzen, nach dem antijüdischen Hetzruf "Hepp-Hepp-Bewegung" genannt, mach­ten mit Hundts brutalem Anti­se­mitismus teilweise ernst. Schon 1816 hatte Jakob Friedrich Fries mit seinen Hasstiraden unter dem Titel "Über die Gefährdung des Wohl­stands und des Charakters der Deutschen durch die Juden" zum Aufkom­men einer neuerlichen Judenfeindschaft bei­ge­tra­gen. Besonders durch die Nie­derlage der liberalen und demokratischen Kräfte 1848/49, die Enttäuschung der revolutionären Hoffnungen und durch die erneuten Herrschaften reaktionärer Regime sind "jene Tendenzen sichtlich gestärkt worden, denen es mehr um die Einheit und Größe der Nation als um die Freiheit und Gleichheit der Bürger ging. Damit wuchs auch die Kraft eines Nationalismus, der die Nation vornehmlich als Blut- und Tu­gendgemeinschaft begriff, der zum Wahn einer ethisch-moralischen Über­legenheit der Deut­schen neigte und andersnationale Nachbarn ebenso mit grund­sätzli­cher und dauerhafter Feindschaft oder Verachtung begeg­nete wie den als fremd und sperrig empfundenen Min­der­heiten im eignen Land."[15] In Gustav Frey­tags Roman "Soll und Haben", 1855 erschie­nen, sind derlei assimi­la­tions­feindliche Tendenzen zum literarischen Programm des deutschen Bürgertums erhoben worden. Der Schritt zu politischen Programmschriften war nicht mehr groß. 1873 er­schien des Journalisten Wilhelm Marrs Pamphlet "Der Sieg des Ju­dentums über das Germanen­tum". 1879 rief der Autor eine der Aus­breitung des Antisemitismus dien­liche Zeitschrift, die "Antisemiten­liga" ins Leben. 1878 hatte der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker die Christlich-soziale Arbeiterpartei gegrün­det, die sich ebenfalls antisemitischer Politik verschrieb. 1880 initiierten der Gymnasialleh­rer Bernhard Förster und der Unteroffizier Max Lieber­mann von Sonnenberg eine "Antisemitenpetition" im Preußischen Abgeordnetenhaus (die zu unterschreiben Wag­ner sich ent­schieden wi­dersetzte). 

Als schließlich die Konjunktur infolge des preußisch-deutschen Sie­ges über Frankreich und der Reichsgründung 1873 zusammenbrach und eine deprimierende wirtschaftliche Talfahrt einsetzte, machten große Teile der Bevölkerung die Juden, die im Bankwesen einen ge­wichtigen Faktor bil­deten, dafür verantwortlich. Da sich die Deut­schen inzwischen nach ei­nem Sieg über Frankreich, nach der Reichs­einigung und im Bewusstsein, zum wirtschaftlich, militärisch und politisch stärksten Staat des Kontinents zu gehören, zu über­heblichem Nationalstolz empor­ge­schwungen hatten, musste sie die wirtschaftliche Depression nur um so empfind­licher verlet­zen. Die literarische Überhöhung des deutschen Nationalstolzes hatte Gustav Freytag mit seinem Romanepos "Die Ahnen" (1872-1880) geleistet. Darin adelte er diesen Nationalstolz mit einer geheimnisvollen "Deutschheit", die über Jahrhunderte in einer vermeintlichen Blut- und Wesenssubstanz bewahrt worden sei.

Die von Freytag so angepriesenen Tugenden bürgerlicher Tüchtig­keit und deut­schen Unternehmersinns haben den Industri­ali­sierungs-, Verstädte­rungs- und Zivilisationsprozess in Deutschland durchaus befeuert. Auf die damit einhergehende Ent­fremdung reagier­ten breite Massen mit Unbeha­gen, Angst, ja mit antimodernistischer, fortschrittsfeindlicher Kulturkri­tik, die romantisch-idealisierte, träume­risch-vorindustrielle, rück­wärts­gewandte Gesellschaftsutopien entwarf. Wie der Historiker Her­mann Graml ausführt: "Intensivierung des Nationa­lismus, Dome­stizierung der bürgerlichen Na­tionalbewegung, Beginn der Vorherrschaft eines an die Blut- und Ab­stammungsgemeinschaft gebundenen, 'völkischen' Nationalismus, Domi­nanz einer feudalistisch orientierten Werteordnung, Formulierung und Ausbreitung antimodernistischer Ge­sell­schafts­bilder, Biologisierung der gesell­schafts­po­litischen Ordnungsbegriffe, Entstehung des erstickenden Gefühls ei­ner 'Raum­not' der deutschen Nation, die Verbindung all dieser Re­sultate der Reichs­gründung musste neben anderen Folgen vor allem eine Konsequenz haben: die stetige Zunahme der Aggressivität des deutschen Nationalismus und der deutschen Nation. Die Suche nach Betätigung und nach Feinden, die dem ohne ausreichende innenpoli­tische Ziele so aggres­siv gewordenen deutschen Nationalismus nun natürlich war, konnte sich nicht allein nach außen wenden. Zwar kam es in der Tat zu einer Wen­dung nach außen: in einem hekti­schen Imperialismus, der Kolonien in Übersee als unverzichtbar be­trachtete, (... ). Doch richtete sich der ag­gressive Nationalismus mit gleicher Heftigkeit und Hysterie gegen Min­derheiten im eigenen Staat, gegen Elsässer, Lothringer und Polen, gegen 'ultramontane', katholische wie gegen sozialistische 'Reichsfeinde', vor allem aber und ohne jede Ermüdung gegen die Juden."[16]


Der einflussreichste Historiker des Kaiserreichs, Heinrich Treitschke, blies denn auch als Hochschulprofessor wie als Autor populärer hi­storischer Bücher und jour­na­listischer Arbeiten zum Sturm gegen die Juden. Auch wenn er zunächst noch die Assimilation befürwor­tete und sogar forderte, setzte er doch das folgenreiche Wort in die Welt: "Die Juden sind unser Unglück!" Treitschke schrieb alle ne­gativen Aus­wüchse der Industrialisie­rung und Modernisierung den Juden zu, ja stempelte sie und den vermeintlich jüdischen Geist für alle Zeiten zu Feinden der Deutschen und des Deutschen schlechthin. Damit bildete sich ein Antisemitismus aus, der nicht mehr an die christlich ­ständische Judenfeindschaft gebunden war, sondern sich aus der Ver­quickung von Antimodernismus und Natio­nalismus speiste. Taufe und No­b­­i­litierung vermochten dem Juden da nicht mehr zu helfen, Assimilierung geriet aus dem Blickfeld.

Nur noch ein kleiner Schritt war es von Treitschkes antimoder­ni­stischem zu Paul de Lagardes militant ausgrenzendem Anti­se­mitismus. Der Orien­talist und Kultur­philo­soph de Lagarde schrieb 1887: "es gehört ein Herz von der Härte einer Kro­ko­dilshaut dazu, um mit den armen, ausgesogenen Deutschen nicht Mitleid zu empfin­den und - was dasselbe ist - um die Ju­den nicht zu hassen, um diejenigen nicht zu hassen, und zu verachten, die - aus Huma­ni­tät! - diesen Juden das Wort reden, oder die zu feige sind, dies Unge­ziefer zu zertreten. Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhan­delt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet!"[17] Damit war jeg­lichem Gedanken an Emanzipation und Assimilation endgültig abge­schworen. Mit der rassischen Diskriminierung der Juden ge­gen­über den Deutschen bzw. den Indo­germanen wurde die alte, aus dem Mittelalter stammende reli­giöse Juden­feindschaft ergänzt um eine moderne, weitaus gefährlichere Variante des Juden­hasses. Aus ihm speiste sich die politische Zukunft des Antisemitismus.

Der Berliner Philosoph und Nationalökonom Eugen Dühring legte 1881 ein Buch vor, in dem die Verwissenschaftlichung des Anti­se­mi­tismus na­hezu vollständig ge­leistet war[18]. Darin wurden die Eigen­schaften der Men­schen als rassisch deter­mi­niert und un­ver­änderlich beschrieben. Am unte­ren Ende der Rassenskala standen die Juden: Sie seien "eines der niedrig­sten und misslungensten Erzeugnisse der Natur"[19]. Die Juden, denen der Autor Min­der­wertigkeit, Abscheulich­keit und Ge­fährlichkeit attestierte, so heißt es weiter, führten seit Jahrtausenden "einen Unter­drückungs und Ausbeutungskrieg" ge­gen das Men­schen­ge­schlecht, speziell gegen die Deutschen. Die "getauften Juden sind diejenigen, die ohne Hindernisse am weitesten in alle Kanäle der Gesellschaft und des politischen Gemeinle­bens ein­dringen."[20] Die fixe Wahn-Idee einer jüdischen Weltverschwö­rung war damit geboren. Daran sollte ein Adolf Hitler später nahtlos anknüpfen können.


1918 veröffentlichte Arthur Dinter den äußerst erfolgreichen Roman "Die Sünde wider das Blut", in der aus Dührings Thesen die Schlussfolgerungen gezogen wur­den, dass durch sexuelle Beziehungen mit einem Juden das Blut des nicht­jüdischen Partners vergiftet werde. Das Grundmuster des rassischen Antisemitismus in seiner für alle späteren Theoretiker vorbild­lichen Konzeption war spätestens damit vollendet worden. Ihm folgten der Reichstagsabgeordnete Otto Böckel in seinem 1901 erschienenen Buch "Die Juden - die Könige unserer Zeit", der Kulturkritiker Julius Langbehn mit der 1890 ver­öffentlichten Schrift "Rembrandt als Erzieher" und 1892 mit "Der Rembrandtdeutsche", aber auch Theodor Fritsch, der 1887 den berühmt-berüchtigten "Antisemiten-Katechismus" herausbrachte, als "Handbuch der Judenfrage" erlebte das Buch vierzig Auflagen. Bei allen Theoretikern eines ras­sistischen Antisemitismus wurde der "nordischen Rasse", den "Ariern" der min­der­wertige und gefährliche Jude gegenüber­gestellt. Diese Dualität wurde nicht nur als Grund­muster zur Erklärung gesellschaftlicher Probleme, sondern schließ­lich "als Schlüssel zur Inter­pretation und Deutung der bisherigen Geschichte"[21] benutzt. Ein abstruses Gedankengebäude, das Schule machen sollte[22]. Noch einmal sei hier Her­mann Graml zitiert: "Der rassische Antisemitismus, bislang allzu ein­seitig auf das 'Ausjäten' und das 'Ausmärzen' des minderwertig-gefährli­chen jüdischen Ele­ments fixiert, legte sich mit der Adaption sozialdarwi­nistischer Züchtungsutopien auch ein sozusagen positives rassenhygienisches Programm zur Veredelung der eigenen Art zu, was den wissenschaftlichen Anstrich verschönte und wieder ein Quäntchen mehr Re­spektabilität verschaffte."[23] Wilhelm Marr hatte ja bereits 1879 vom "Sieg des Judentum über das Germanentum" gesprochen, Her­mann Ahlwardt hatte 1890 die Vokabel vom "Ver­zweiflungskampf" zwischen Ariern und Juden in die Welt gesetzt.[24] Die Wahnvorstel­lung von der jüdischen Ver­schwörung zur Erlangung der Weltherr­schaft hatte im Bereich der Litera­tur bereits der Journalist Her­mann Goedsche alias Sir John Retcliffe in seinem Roman "Biarritz", der 1868 erschien, mit den Mitteln des Schau­erromans entwickelt. Der Beitrag der zeit­ge­nössischen belle­tristischen Literatur zur Ent­wicklung des militanten rassistischen Antisemitismus darf nicht unterschätzt werden.[25].

Vor allem in der französischen Literatur gab es eine ganze Reihe von Autoren, die antisemitische Stereotypen tradierten, worauf zuletzt (1986) Dieter Borchmeyer[26] hingewiesen hat. Zu nennen sind da Autoren wie Chateau­briand, Victor Hugo, Eugène Sue, Edgar Quinet, die Brüder Gon­court, Alfred de Vigny und Balzac, Zola, Maupassant[27]. Die Behauptung Borchmeyers allerdings, dass "kaum einer der großen deutschen Schrift­steller des 19. Jahrhunderts Anti­semit gewesen"[28] sei, ist schlichtweg als falsch zu be­zeich­­nen. Es lassen sich eindeutig antisemitische Äußerungen nicht nur im er­zäh­le­ri­schen Werk Wilhelm Raabes, Gustav Freytags, Felix Dahns, Fritz Reuters und Berthold Auerbachs[29] nach­­weisen, ganz zu schweigen von der reichen Gattung der Ghet­to­geschichte oder des Ghet­to­ro­mans[30], latenter Antisemitis­mus ist sogar im Werk Theodor Fontanes und des jun­gen Tho­mas Mann aufzuspüren. (Freilich hatten letztere Au­toren natürlich kei­nen Einfluss mehr auf Richard Wagner.) Aber auch Ludwig Feuerbach, den Wagner eben­falls schon früh gelesen hat, Her­wegh und Dingelstedt, mit denen er befreun­det war, haben in ihren anti­semitischen Äußer­ungen Wagner beeinflusst. Jacob Katz hat darüber hinaus eine, wie er zu Recht be­merkt, "von der Wagnerforschung unbe­achtete Stelle ... in der Einleitung Laubes zu seinem im Jahre 1847 erschienenen Drama 'Struensee'" entdeckt, von der er behauptet: "Sowohl die Diagnose (des Antisemitismus, D.S.) als auch die an­geb­liche Therapie werden sich in Richard Wag­ners Argumentation in fast wörtlicher Über­nahme wieder­fin­den"[31].


Es sei hier nur angemerkt, dass auch die englische Roman-Li­teratur des 19. Jahrhunderts[32] , man denke nur an Dickens, Thackeray und Disraeli, ebenso wie die rus­­si­sche Literatur (z.B. Gogol, Dostojewski) sich der Verwendung traditio­nel­ler, diskriminierender Judenbilder bediente. Diese dürften ebenfalls das nega­tive Juden­bild Wagners, der in seiner grenzen­losen Leseleidenschaft natür­lich die großen reali­sti­schen Romane kannte, entschei­dend geprägt haben. Doch zurück zur Po­li­tik.


Die Vorbehalte gegenüber radikalen Lösungen der Judenfrage schwanden in den letz­ten anderthalb Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zunehmend. Hermann Ahl­wardt hatte schon 1895 in einer Reichstagsdebatte die Juden als "Raubtiere" be­zeichnet, die es gelte "auszurotten"[33]. Die Hemm­schwelle zur Vorstellung von der phy­si­schen Ausrottung der Juden hatte schon Karl Paasch 1892 in sei­nem Danziger "Antisemiten Spiegel" über­schritten. Die einfachste Lösung der Judenfrage, so schrieb er, bestehe darin, die Juden umzubringen, die zweitbeste Lösung sei die De­por­tation nach Gui­nea. Die Bausteine zum Hitlerschen Antisemitismus mit sei­ner Ver­nichtungsideologie waren also in den beiden Jahrzehnten vor dem er­sten Welt­krieg bereitgestellt worden. Zumindest ein Teil der nichtjüdi­schen Deutschen sym­pathisierte mit diesem radikalen Anti­semitismus. Vorübergehend verzeichneten anti­semitische Parteien be­achtlichen Zulauf. So etwa Stoeckers "Christlichsoziale", die "Soziale Reichspartei" Ernst Henricis, aber auch die "Antisemitische Volks­par­tei" Otto Böckels.


Der Großteil der nichtjüdischen Deutschen hingegen tolerierte oder be­grüßte die Assimi­lation der Juden. Vor allem die Bürokraten des Deutschen Reiches standen noch auf Seiten des vom Rationalismus und Huma­nismus geleiteten Geistes des aufgeklärten Absolutismus und somit auf der Seite der jüdischen Emanzipation. So entstand die Situation, "dass der zu­tiefst illiberale deutsche Antisemitismus, wenn er politisch handlungsfähig werden wollte, als unabdingbare Voraussetzung den Zu­sam­menbruch des Obrigkeitsstaats und den Übergang der Macht an die Parteien in ei­nem System des liberal­de­mo­kratischen Parlamentarismus brauchte."[34]


Adolf Hitler trat auf den Plan der Geschichte. 1919 trat er der "Deutschen Natio­nalsozialistischen Arbeiterpartei" bei, deren Vorsitz er 2 Jahre später übernahm. 1925/26 legte er seine antise­mitische Bekenntnis- und Kampf­schrift "Mein Kampf" vor. Die Bau­steine dazu hatte er vorgefunden. Von nun an konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, was er mit den Juden vorhatte. Und seine ideologischen wie po­litischen Helfershelfer brauchten nurmehr zu paraphrasieren, was in "Mein Kampf" systematisch abgehan­delt war. Sie wurden nicht müde, den Hitlerschen Anti­semitismus als Heilsbotschaft der Deutschen zu verkünden, je mehr die NSDAP zur Massenbewegung wurde, desto lautstärker. Originalität war Hitlers anti­semitischer Weltanschauung nicht im Mindesten eigen. Sie war nicht mehr als ein krudes Amalgam des Antimodernismus, den Treitschke und de Lagarde an Langbehn und Chamberlain wei­tergereicht hatten, vermischt mit rassistischem So­zial­darwinismus Eugen Dührings, Hermann Ahl­wardts und Otto Böckels, die ihn be­­gründet hatten, vermittelt durch Lud­wig Schemann und in erster Linie Houston Ste­wart Chamberlain. Von ihm wird im Folgenden noch ausführlich zu reden sein.

(Alfred Rosenberg sollte eine sehr ähnliche Mixtur 1930 in seinem "Mythus des zwan­zigsten Jahrhunderts", einem programmatischen Stan­dardwerk der NS-Welt­an­schauung, noch einmal aufkochen.) 


Der Ausgang des ersten Weltkrieges mit seinen für Deutschland kata­strophalen wirt­schaftlichen Folgen und das letztend­liche Scheitern der Weimarer Republik, die die Nationalsozialisten zur "Judenrepublik" abge­stempelt hatten, verhalfen der Par­tei Hit­lers zum Erfolg. Mit der Macht­übernahme Hitlers 1933 wurde die NSDAP Staats­partei, deren antisemiti­sche Ideologie Staatsideologie mit dem Ziel der Aus­löschung alles Jüdischen. Alles Weitere dürfte  be­kannt sein.[35]


[1]    Wagner, Richard: Sämtliche Briefe Bd. 12, S. 252-253

[2]    Wagner, Richard: Sämtliche Briefe Bd. 12, S. 260

 26    Wagner, Richard: Sämtliche Briefe Bd. 1, S. 206

[4]  In einem Brief an Friedrich Engels anlässlich der ersten Bayreuther Festspiele 1876.

[5]  Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. In: Werke Bd. 2, S. 1092

[6]     CT Bd. 3, S. 397.

[7]     CT Bd. 3, S. 129.

[8]     CT Bd. 1, S. 404; Bd. 3, S. 361.

[9]     CT Bd. 2, S. 919; Bd. 3, S. 107; Bd. 4, S. 970.

[10]   CT Bd. 1, S. 178.

[11] Siehe dazu die Ausführungen in Kap. III.

[12] Jakob Katz: Richard Wagner, Vorbote des Antisemitismus, op. cit., S. 171.

[13] Horst Althaus: Richard Wagner. Genie und Ärgernis, Ber­gisch Gladbach 1982, S. 99.

[14] Zitiert nach Hermann Graml: Reichskristallnacht. Anti­semi­tis­mus und Judenverfolgung im Dritten Reich, München 1988, S. 53.

[15] ebd. S. 56 f.

[16] ebd. S. 64.

[17] Paul de Lagarde: Juden und Indogermanen. Eine Studie nach dem Leben, Göttingen 1887, S. 339.

[18] Eugen Dühring: Die Judenfrage als Racen, Sitten und Cultur­frage. Mit einer weltge­schichtlichen Antwort, Karlsruhe Leipzig 1881.

[19] ebd. S. 109.

[20] ebd. S. 3.

[21] Hermann Graml: Reichskristallnacht, op. cit., S. 74.

[22] Als groteske und dem gebildeten Bürgertum obsolet schei­nende Beispiele mögen der ehemalige österreichische Zi­ster­ziensermönch Adolf Lanz, der sich selbst zu Jörg Lanz von Liebenfels scheinadelte, sowie der Münchner In­tel­lektuelle Alfred Schuler gelten. Jörg Lanz entwickelte eine rass­istische "Theozoologie", die er in den be­rüch­tig­ten "Osta­ra"-Heften verkündete, Alfred Schuler schwang sich im groß­bürgerlichen Münch­ner Milieu zum Apostel ei­nes ger­ma­nischen Blutkultes auf.

[23] Hermann Graml: Reichskristallnacht, op. cit., S. 77.

[24] Hermann Ahlwardt: Der Verzweiflungskampf der arischen Völ­ker mit dem Judentum, Berlin 1890.

[25] siehe dazu: Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-is­raelisches Symposion, her­ausgegeben von Stéphane Mo­ses und Albrecht Schöne, Frankfurt/a.M. 1986; vgl. auch: Ju­­den und Judentum in der Literatur, herausgegeben von Her­bert A. Strauss und Christian Hoffmann, München 1985.

[26] Dieter Borchmeyer: Richard Wagner und der Anti­se­mi­tismus, S. 152 ff. In: Wagner-Handb.  

[27] Vergleiche dazu: Walter A.Strauss: Judenbilder in der fran­­­zösischen Literatur, op. cit., S. 307-338.

[28] Borchmeyer: Richard Wagner und der Antisemitismus, in Wagner-Handb. S. 152.

[29] Siehe hierzu: Hans Otto Horch: Judenbilder in der rea­listischen Erzählliteratur, in: Wagner-Symposium S. 140-172.

[30] Siehe hierzu: Geschichten aus dem Ghetto, hrsg. von Jost Hermand, Frankfurt am Main 1987.

[31] Katz S. 36.

[32] Siehe hierzu: Pauline Paucker: Jüdische Gestalten im eng­lischen Roman des 19.Jahrhunderts, in: Juden und Juden­tum in der Literatur, op. cit., S. 106-140.

[33] Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deut­schen Reichstages, 53. Sit­zung, 6. März 1895, S. 1296 ff. (Zitiert nach Hermann Graml)

[34] Hermann Graml: Reichskristallnacht, op. cit., S. 83.

[35] Siehe dazu im Einzelnen Hermann Graml: Reichskristallnacht (siehe Anm. 4), dessen logischer, essentieller Darstellung ich weitgehend folge. Vgl. auch: Paul Massing: Vor­ge­schichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1959; Peter G. J. Pulzer: Die Entstehung des politischen An­tisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914, Gütersloh 1966; Hans Jürgen Puhle: Agrarische Inte­res­senpolitik und Kon­servatismus im wilhelminischen Reich 1893 - 1914, 2. Aufl. Bad Go­desberg 1975; Hermann Greive: Ge­schichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, Darm­stadt 1983; Jakob Katz: Vom Vorurteil bis zur Ver­nichtung. Der Antisemitismus 1700-1933, München 1989; Friedrich Battenberg: Das europäische Zeitalter der Ju­den. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas (2 Teilbände), Darmstadt 1990.

  1. Damit kommen wir zur Wirkungs­geschichte des Wagnerschen Antisemitismus. Winfried Schüler hat in seiner weg­­weisen­den Arbeit über den Bay­reuther Kreis eigentlich alles dazu gesagt: Was Wagner „an Ur­sprüng­lich­keit, an Größe und Ungebundenheit des Denkens be­sitzt ... verengt sich bei den Jüngern des Bayreuther Kreises, das sind Cosimas Hausau­toren der „Bayreuther Blätter“, zum Dogma, zur Formel, zum Pro­gramm. Zu­gleich mündet es ein in einen breiten Strom ähnlich gestimmter Er­neu­­erungsbe­strebungen." Zu ergänzen ist, dass wesent­li­che Ele­men­te des Wagnerschen Denkens von den Autoren des Bay­reuther Kreises, wie auch von den späteren national­sozia­listi­schen Wagner-Schriftstellern ignoriert oder gar in ihr Gegenteil ver­kehrt wurden, beispielsweise Wagners utopisch-so­zialistische Ansichten, sein altersradikaler Pazifismus, seine rebelli­schen Züge, sein Kosmopolitismus, seine kritischen Äu­ßerungen über Deutschland und die Deutschen und Wagners Misstrauen gegenüber der deutschen Staatsmacht und dem Machtstaat". Wagner wurde idolisiert zum Religionsgründer eines germanischen, anti­se­mi­tischen, völkischen Christen- und Deutschtums. Damit machten sie sich zu den geistigen Wegbah­nern des Na­tionalsozialismus. Einer der maß­geb­li­chen Mittler dieses nationalistisch-antisemitischen Wagnerbildes war Houston Ste­ward Chamberlain, der Wagners Tochter Eva 1908 heirate und damit zu des toten Wagners Schwiegersohn wurde und un­mit­telbaren Zu­gang zum Allerheiligsten Bayreuths, zu Wahnfried erhielt. Er wurde zum innigsten Vertrauten der Gralshüterin Cosima. Chamberlain hatte sich aber schon dem preußischen Hofe angedient und bei Kaiser Wilhelm und dem Kronprinzen für eine starke Wagner-Begeisterung gesorgt. Und er hat die Brücke vom Hause Wagner zu Adolf Hitler geschlagen. In seiner Schrift "Die Grund­lagen des neun­zehnten Jahrhunderts" hatte er mit explizit rassistisch-antisemitischer, natio­nalistischer Kultur­ge­schichts­schreibung weite Teile des Bildungsbür­gertums ideologisch auf das Kommende vorbereitet. Er redete einer nor­disch-deutschen Rasse, zu deren künstlerischem Seher er Wagner er­klärte, das Wort und hatte damit gewisser­maßen den Grundstein ge­legt für die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie in Alfred Ro­senbergs Buch "Der Mythus des 20. Jahrhunderts" ihren bezeichnenden Ausdruck fand. Chamberlain hat Wagners antijüdische Haltung ins kämpferisch-unversöhnliche Extrem verkehrt und mit seiner eigenen "arischen" Blutideologie unterlegt, die die Assi­milation der Juden von vorn­herein ausschließt. Mit Wagners Vorstellungen hatte das nichts mehr zu tun. 1930 starb der Wagner-Sohn Sieg­fried, der seit 1924 mit Winifred Williams ver­heiratet war. Seine Frau trat das Wagner-Erbe an und übernahm das Amt der Fest­spiel­führung, das sie bis 1944 ver­sah. Sie machte sich bewusst zum Steig­bügelhalter Hitlers. Wie die bildungsbürgerliche, wagnerianisch angehauchte Großwirtschaft Hitler finanziell unter­stützte, so half ihm Bayreuth ideolo­gisch: indem es ihn bürgerlich respektabel machte" (So hat es der Historiker Ernst Hanisch treffend formuliert). Und Hitler finanzierte das marode Bayreuth, das Winifred mit seiner Hilfe vor dem Konkurs rettete. Was Hitler angeht: Er hatte gegenüber Wagner übrigens eine äußerst selektive Wahr­nehmung an den Tag gelegt. Er berauschte sich lediglich an den mythischen Oberflächenreizen des Wagnerschen Werks und seiner Musik. Die moderne, gesell­schafts­kritische, psychologische und politische Dimension der Werke hat er nicht wahrgenommen. Und schon gar nicht, dass Wagner vor allem scheiternde Helden und eine korrupte Welt der Mächtigen auf die Bühne brachte. Dass Hitler die Welt glauben ma­chen wollte, er habe Wagner als seinen einzigen Vor­läufer emp­funden und sich als dessen Vollender begriffen, bezeugt nicht mehr als seinen Grö­ßenwahn und sein Unverständnis Wagners. Wagners bedeutete ihm "nicht viel mehr als ein überaus wir­kungsvolles aku­stisches Mittel zur Steigerung theatralischer Effekte", vor allem Propaganda-Effekt in der masssen­wirksamen Inszenierung des NS-Staates. Die gezielte ideologische Verein­nahmung, die Einpassung Wagners ins ideologische Raster der Na­tionalsozialisten, besorgten seine intellektuel­len Helfershelfer. Schon 1920 hatte der Musikologe Karl Grunsky – später einer der eifrigsten Nazis - in seinem Buch "Richard Wagner und die Juden" Wagner zum Vorreiter des modernen Antisemitismus erklärt und sein Werk als "ein einziges Preislied auf alles Deutsche" bezeichnet. Ein Blick in Wagners europäische Biographie oder in Wagners Briefe genügt, um diese absurde Behauptung Lügen zu strafen.

Als Wagner nach elf Jahren Exil, begnadigt vom sächsischen König, zum ersten Mal wieder deutsche Grenzen überschritt, bekannte er seinem Zürcher Mäzen Otto Wesendonck: „Von Ergriffenheit beim Wiederbetreten des deutschen Bodens habe ich – leider! – auch nicht das Mindeste verspürt“.[1] In einem Brief an Franz Liszt vom 13. September 1860 schrieb er: „Mit eigentlichen Grauen denke ich jetzt nur an Deutschland und meine für dort berechneten zukünftigen Unternehmungen. Verzeihe es mir Gott, aber ich sehe dort nur Kleinliches und Halbheit in Allem und Jedem, (...) Glaub' mir, wir haben kein Vaterland! Und wenn ich ‚deutsch’ bin, so trage ich sicher mein Deutschland in mir...“[2]  Es ließen sich unzählige Briefe Wag­ners zitieren, in denen sich seine mit zunehmendem Alter steigernde Aversion gegen Deutschland und die Deutschen ausspricht. Wagner hatte sich in Deutschland im Grunde nie zuhause gefühlt. Schon der 22-jäh­rige Student Wagner bekannte sei­nem Leipziger Studienfreund Theodor Apel: „Hin­weg aus Deutschland gehöre ich!“[3] Und wenn Karl Marx den Komponisten Wagner als deutschen „Staats­musikanten“[4] bezeichnete, so hat er ihm damit ein völlig falsches, aber folgenreiches, bis heute nicht abzulösendes Etikett angeheftet. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat dem heftig widersprochen und behauptet, dass Wagner „nirgendwo weniger hingehört als nach Deutsch­land“, ja dass Wagner „unter Deutschen bloß ein Missverständnis ist“.[5]  Nietzsche hat Recht gehabt! Dass Wagner missbraucht werden konnte, liegt auf der Hand. Die Wiederbelebung germanischer Mythenstoffe und mittel­alter­licher Epen, Wagners Betonung des "Volkshaften" und "Deutschen" aus dem Geiste der romantischen Tradition, sein ethisch-ästheti­scher Erneu­erungs­wille, sein Kulturpessimismus und sein in privaten Äußerungen wie in theoretischen Schriften ver­nehm­barer Anti­semi­tismus konnten natürlich im Zeitalter des Nationalismus starke völ­kische, nationalistische Impulse und Affekte auslösen. Allerdings nur unter Aus­blendung alles dem Wi­der­­sprechenden, alles Religiösen, Revo­lutionären, Antibür­gerlichen, ja Anar­chisch-Staatsfeindli­chen, das ja auch in Wagner enthalten ist. Und das ist eine der wichtigsten Einsichten der intensiven Beschäftigung mit Wagner, dass er voller Widersprüche ist. Wagner war Sozialist und Kapitalist, Großbürger und Bohemien, er war Antisemit und doch befreundet mit vielen Juden und all das gleichzeitig. Er hat sich die schrecklichsten Scherze über Juden erlaubt. Und hat doch Cosima gegen­über eingestanden, "dass die Juden schließ­lich doch besser seien als die Bil­dungs­philister".[6] Als er sie einmal mit Katholiken und Protestanten verglich, bezeichnete er sie Cosima gegenüber als "die aller­vor­nehmsten"[7]. Nicht zu reden von den wiederholten Äußerungen großer Wertschätzung von Werken etwa Mendelssohns[8], Halévys[9] oder Heinrich Hei­nes[10]. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichen, diese Widersprüche in Person und Werk Wagners führen so manchen Wagnerverehrer wie Wagnerverächter immer wieder aufs Glatteis.

Es gilt, noch einmal den israelischen Historiker Jakob Katz zitieren. In seinem Buch über „Richard Wagner als Vorbote des Antisemitismus“ heißt es: Die Deutung Wagners "aufgrund der Gesinnung und der Taten von Nachfahren, die sich mit Wagner identifizierten, ist ein unerlaubtes Verfahren."  Bei der nach 1945 einsetzenden, rück­blickenden Interpretation Wagners durch –Theodor W. Adorno, Hartmut Zelinsky, Paul Lawrence Rose, Marc Weiner, Joachim Köhler, Jens Malte Fischer und wie sie alle heißen, "han­delt sich, so“ Jakob Katz, „um eine Rück­datierung, ein Hineinlesen der Fortsetzung und Abwandlung Wag­nerscher Ideen durch … Hitler in die Äußerungen Wag­ners selbst". Wagner dem "Führer" als dessen Propheten, Vorläufer oder Ahn­herrn auszu­liefern, wäre Hitlers postmor­taler Tri­umph. Der soll ihm nicht gegönnt werden! Wag­ner heute noch durch die Optik Hitlers wahrzunehmen

ist wis­senschaftlich un­haltbar, und, wofern gegen bessere Einsicht unternom­men, mora­lisch infam.

 

 

 

Der Text folgt (bearbeitet) einem Vortrag, gehalten in Leipzig, Berlin, Bayreuth 2013. Einzelheiten, Weiterführendes und Nachweise sämtlicher Zitate in meinem Buch „Richard Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht“ Darmstadt 2013 (aktualisiert, ergänzt und auf dem neusten Stand der Wissenschaft). Die Erstausgabe erschien in Würzburg 1993 (Dissertation), dann neu in Berlin 2000 „Richard Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht. Eine Korrektur“.

 


[1]    Wagner, Richard: Sämtliche Briefe Bd. 12, S. 252-253

[2]    Wagner, Richard: Sämtliche Briefe Bd. 12, S. 260

 26    Wagner, Richard: Sämtliche Briefe Bd. 1, S. 206

[4]  In einem Brief an Friedrich Engels anlässlich der ersten Bayreuther Festspiele 1876.

[5]  Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. In: Werke Bd. 2, S. 1092

[6]     CT Bd. 3, S. 397.

[7]     CT Bd. 3, S. 129.

[8]     CT Bd. 1, S. 404; Bd. 3, S. 361.

[9]     CT Bd. 2, S. 919; Bd. 3, S. 107; Bd. 4, S. 970.

[10]   CT Bd. 1, S. 178.

Hier doppelklicken, um Ihren eigenen Text hinzuzufügen.