Bregenzer Festspiele 2022

Photo: Bregenzer Festspiele – Anja Köhler


Faszinierende Ausnahmeproduktionen
indoor und outdoor, populär & rar


Puccinis “Madama Butterfly” und Giordanos „Siberia“

bei den Bregenzer Festspielen 2022


 

Es gibt Stücke, die bei den Bregenzer Festspielen noch nie gezeigt wurden, so etwa die 1904 uraufgeführte Tragedia giapponese “Madama Butterfly” von Giacomo Puccini. Die Intendantin der Festspiele, Elisabeth Sobotka hat es gewagt, das intime Stück  auf den Spielplan zu setzen und damit bewiesen, dass es sehr wohl auf der gigantischen Seebühne glaubwürdig aufgeführt werden kann. Sie hat den Bühnenbildner Michael Levine gebeten, eine gewaltige, quasi über dem Wasser schwebende japanische Schriftrolle mit Tuschzeichnungen (Berge und Bäume) bauen zu lassen, sie wiegt rund 300 Tonnen und ist mit ihren 23 Metern Höhe und 33 Metern Breite monumental und doch filigran. Suggestive Beleuchtungen (Frank Evin) und animierte Videoproduktionen (Luke Halls) verleihen der ungewöhnlichen Spielfläche etwas ständig sich Wandelndes, ja Traumhaftes. Irritierende Bewegungen der Landschaften  und geisterhaft auftauchende, plastische Gesichter sorgen für Magie. Die ungewöhnliche Bühnenskulptur, die horizontal wie vertikal bespielt wird, kann wie ein zerbrechliches Blatt japanischen Reispapiers wirken, eine Metapher des Seelenzustands der Madama Butterfly, aber auch wie ein Gebirgsmassiv mit mehreren übereinander angeordneten Spielflächen. Weiß verschleierte Tänzer symbolisieren den Geist des alten Japan und greifen auch in die Handlung ein).


Regisseur Andreas Homoki versteht es souverän, aber auch (gemessen an den vorherigen Produktionen mit dem Clownskopf des “Rigoletto”, den Händen der “Carmen”oder dem Auge der “Tosca”) spektakulär unspektakulär die Tragödie der Cio-Cio-San  in Szene zu setzen, jene aufwühlende Geschichte der Geisha, die vom leivhtfertigen amerikanischen Marinesoldaten Pinkerton zum Spaß geheiratet, sexuell ausgebeutet, geschwängert und schlisslich verlassen wird. Homoki kann Massenchöre wie Individualschicksale, Statisten und Sänger führen, aber auch die szenischen Übergänge geschickt verblenden und die 1340  qm große Bühne theatralisch wirksam bespielen. Die antiimperialistische, antiamerikanische Stoßrichtung gipfelt darin, dass Pinkerton 2 Löcher in die Papierwände reißt, durch deren eines sich ein Flaggenmast mit dem Sternenbanner schiebt. Es entsteht ein Bild des alten Japan, in das der überhebliche amerikanische Imperialismus einbricht. Die opulenten Kostüme von Anthony McDonald verleihen der Aufführung etwas Rauschhaftes. Exzellent ist auch die Sängerbesetzung. Barno Ismatulaeva singt eine herzzerreißende Cio-Cio-San, Edgaras Montvidas einen draufgängerischen “Yankee vagabondo” Pinkerton, Annalisa Stroppa eine anrührende Dienerin Suzuki und Brian Muligan einen männlich-kernigen Konsul Sharpless, wie man ihn nur selten erlebt. Auch der Rest des Ensembles lässt Nichts zu Wünschen übrig.


Leider erzwangen Donner, Blitz und Regen eines am Abend aufziehenden heftigen  Bodenseegewitters nach einer Stunde den Abbruch des Spiels auf dem See. Aber die halbszenische Fortsetzung der Aufführung im Festspielhaus machte um so mehr die musikalische Qualität  der Wiener Symphoniker und des Prager Philharmonischen Chores hörbar, die unter Enrique Mazzola eine eindrucksvolle Gratwanderung zwischen Opulenz und Lyrismus, subtilem Klangfarbenzauber und erschütternder emotionaler Gewalt bewältigten. Ein heftig umjubelter Publikumserfolg.


Die zweite Festspielpremiere, traditionsgemäß eine Rarität im Festspielhaus, wurde von der Intendantin mit Bedacht ausgewählt, denn das Libretto auch dieser Oper wurde von Lugi Illica verfasst und es ist jene Oper, die als Ersatz für “Madama Butterfly” im Dezember 1903 an der Mailänder Scala uraufgeführt wurde. Statt des aufgrund eines Autounfalls erkrankten Puccini bekam der neun Jahre jüngere Luigi Illica seine Chance. Auch er war Verist, gehörte der “Giovane Scuola” an und schuf mit “Siberia” ein Werk in der Tradition der Heiligen-Huren-Opern, zu denen schon Verdis “La Traviata”und Puccinis “Manon Lescaut”zählten.


Es ist die Geschichte der Kurtisane Stephania, die vom eleganten Stadtpalais in St. Petersburg aus ihrem wegen Mords verurteilten Geliebten ins sibirische Straflager folgt und dort stirbt. Zuvor hat sich die Kurtisane zur selbstlos Liebenden und Kämpferin gegen Ungerechtigkeit und Verleumdung gewandelt.


Das grausam realistische Stück, in dem Gefängnis, sibirisches Straflager, Liebe, Betrug und Hass, Eifersucht und Menschenschinderei schonungslos gezeigt werden, ist mit extrem sprunghafter, emotional schwankender Musik zwischen moderner Expressivität, romantischer Emphase und russischem Lokalkolorit ausgestattet. Der junge Dirigent Valentin Uryupin zieht alle Register und lässt Giordanos Musik in unerbittlicher, kristallklarer, im Detail betörend sensibler Härte und analytischer Klarheit musizieren. Wieder beweisen sich die Wiener Symphoniker als hervorragendes Orchester. Auch der Prager Philharmonische Chor ist in Bestform, nicht nur beim Singen des A-capella-Gesangs im Stile der russisch-orthodoxen Kirche.


Der begabte Nachwuchs-Regisseur Vasily Barkhatov inzeniert das zwischen Janaceks “Aus einem Totenhaus” und Verdis “La Traviata” changierende, selten gespielte Stück zwischen Bibliotheken und Salons, Arbeitsdienst und Sibirien-Tristesse. Es ist eine suggestive Mischung aus magischem Realismus, Surrealismus und virtuosem Zaubertheater. Das Verbindende zwischen St. Petersburg und Sibirien ist ein Videofilm, dessen zwischendurch eingespielte Sequenzen die frei erfundene tragische Geschichte einer alten Frau erzählt, die sich auf Spurensuche in Russland begibt, eines Landes zwischen Petersburger Pracht, schäbigen sozialistischen Wohnblocks und deprimierender sibirischer Ödnis. Filmschnitthaft werden die verschiedenen Spielorte miteinander verblendet, eine schlichtweg großartige Produktion (Bühne Christian Schmidt, Kostüme Nicole von Graevenitz, Film und Bild Pavel Kapinos, Sergey Ivanov und Christian Borchers).


Auch sängerisch ist die Aufführung überzeugend. Aus dem rollendeckenden Ensemble ragt der Sopran der Stephania von Ambur Braid hervor, eine grosse, leuchtende, ausdrucksvolle Stimme, der der Tenor Alexander Mikhailiv als ihr Geliebter Vassili jedoch nicht das Wasser reichen kann. Dennoch darf man von einer erfolgreichen Ausgrabung auf außerordentlichem Niveau sprechen.


Rezensionen auch in: Freie Presse und Orpheus