Simon Boccanegra in Antwerpen. Joel. Hermann

Photos: Annemie Augustijns


Verdi-Sternstunde in Antwerpen

Politisches Lehrstück und urbane Metapher über fragwürdige messianische Hoff-ungen, verratene Ideale, über den rücksichtslosen Ehrgeiz der Mächtigen zwischen Renaissance und Heute

 

Fulminanter„Simon Boccanegra “ an der  Opera Vlaanderen

Premiere 5.2.2017



Eine Sternstunde darf man die jüngste Neuproduktion der Verdi-Oper "Simon Boccanegra“ an der Opera Vlaanderen nennen. Dieses spät noch einmal revidierte, weil sperrige und bei der Uraufführung 1857 wenig erfolgreiche Werk Verdis wurde in Antwerpen schon einmal insze-niert,  im Jahre 1989, nachdem die Opernhäuser von Antwerpen und Gent zusammengeführt wurden zur Flämischen Oper, die sich jetzt Opera Vlaanderen nennt. Nach 28 erfolgreichen Opernjahren feierten die Antwerpener die Wiederbegegnung mit dem schwer zu realisierenden Werk frenetisch. 


Zu Recht, denn schon die Inszenierung ist spektakulär. Das Stück spielt im spätmittelalterlichen Genua. Der Plot um den Korsaren Simon Boccanegra ist außergewöhnlich: Zwischen Prolog und erstem Akt liegt fast ein Dritteljahrhundert. Der Plebejer Boccanegra hat mit der Patri-ziertochter Maria ein gemeinsames, verheimlichtes Kind, das geraubt wird und erst 25 Jahre später wieder auftaucht. Auf dem Meer hat sich Boccanegra um die Seerepublik Genua verdient gemacht und wird deshalb zum Dogen gewählt. So wie seine Karriere auf dem Meer beginnt,  endet sie nach vielfachen Intrigen, Konflikten, Enthüllungen und finaler Vergiftung am Meer, dem er in seiner ergreifenden Sterbearie noch einmal huldigt. Verdi schreibt nicht ohne Grund seine schönsten maritimen Naturschilderungen in dieser Meeres-Oper.


Doch  Regisseur David Hermann zeigt kein Meer. Nur bei Boccanegras Sterbearie kriecht aus dem geöffneten Fenster Meeresnebel ins Arbeitszimmer des Dogen. Hermann inszeniert statt-dessen ein politisches Lehrstück, eine urbane Metapher über fragwürdige messianische Hoff-nungen, verratene Ideale, über den rücksichtslosen Ehrgeiz der Mächtigen, aber auch über die Ohnmacht der Macht. Man sieht Tableaus, die beim Urchristentum beginnen – Michelangelos „Letztes Abendmahl“ wird als lebendes Bild nachgestellt - übers antike Rom in die Renais-sance  führen und in einem heutigen Präsidentenpalast enden, in dem der neue Staatschef ein Dekret nach dem anderen unterzeichnet. Assoziationen an Donald Trump drängen sich auf. Das spektakuläre Bühnenbild von Christof Hetzer, dem konkurrenzlosen Meister der Drehbühne, besteht aus einem bestechend exakt historisch nachgebauten, runden Renaissance-Tempel, der kreist, sich immer wieder öffnet und im Innern mal moderne, mal  historische Räume enthüllt: „Der Raum wird hier zur Zeit“. Tatsächlich gelingt Hetzer eine Art von parsifalesker Wandel-dekoration der anderen Art, die in ihrer Logik und Ästhetik frappiert, von Fabrice Kebour suggestiv beleuchtet. 


In der dialektischen Bild- und Raumkonzeption zwischen Zeiten und Stilen arbeitet David Her-mann handwerklich präzise und psychologisch einleuchtend die  Konflikte zwischen menschli-chem Gefühl und Realpolitik, Utopie und Desillusionierung heraus. Die  Auseinandersetzungen zwischen den aristokratischen Stadteliten und dem nichtaristokratischen Dogen, aber auch die Liebesgeschichte zwischen seiner tot geglaubten Tochter und dem Adligen Adriano, dem Tod-feind ihres Vaters berühren und werden in der zauberischen Zeitreise Hermanns und Hetzers aktuell, ohne dass mit dem regielichen Holzhammer aktualisiert wird. Die bühnentechnisch aufwendige Inszenierung ist ein Theaterwunder.


Aber auch musikalisch ist die Aufführung dank Alexander Joel (Jahrgang 1971) ein Wunder, denn der ehemalige GMD des Staatstheaters Braunschweig, seit diesem Jahr Erster Gastdirigent an der Opera Vlaanderen, beweist einmal mehr, dass er als einer der besten Verdi-, wie auch Wagnerdirigenten seiner Generation gilt. Zu welcher Differenziertheit des Ausdrucksvermögens er das Sinfonische Orchester derOpera Vlaanderen zu animieren weiß, verlangt Respekt ab. Seine  analytisch geschärfte, auf Tempo und vorwärts drängende Dramatik setzende  Lesart der Partitur, die den alten Verdi (dessen späte Fassung von 1881 gespielt wird) einmal mehr als erstaunlich „modernen“ Komponisten erkennen lässt, vernachlässigt aber auch die zarten, romantischen Schönheiten der Partitur nicht. Unter Joels Leitung gelingt dem technisch tadellos und klangprächtig spielenden Sinfonischen Orchester der Opera Vlaanderen eine Pianokultur, wie man sie selten hört. Aber auch sängerisch hat die Aufführung Ausnahme-charakter. Nicola Alaimo ist als anrührend subtil gestaltender Boccanegra so etwas wie eine Idealbesetzung. Stimmlich imposant ist auch der chinesische Bassist Liang Li als Jacopo Fiesco. Nicht weniger eindrucksvoll ist der albanische Bariton Gezim Myshketa als Paolo Albiani. Die griechische Sopranistin  Myrtò Papatanasiou singt mit großem Aplomb Boccanegras wiedergefundene Tochter Amelia. Ihr Geliebter Gabriele Adorno wird von dem jungen russische Tenor Najmiddin Mavlyanov mit Bravour gesungen. Ein ausnahmslos überzeugendes Ensemble, das, wie auch der von Luigi Petrozziello einstudierte  Chor der Opera Vlaanderen einmal  mehr beweist, dass die Opera Vlaanderen eines der besten Opernhäuser Europas ist.   


Rezension auch in: „Das Orchester“ (Schott)