Pariser Leben Christian Lacroix

Photo: Marie Pétry

„La vie parisienne“ erstmals, wenn auch fragwürdig „komplett“ und grell aufgedonnert in Paris

 

Am 7. November 2021 hat im Théâtre des Arts von Rouen mit reichlich Verspätung die „Urfassung“ von „La vie parisienne“ das Licht der Theaterwelt erblickt. Deren Ausgrabung ist - so liest man mit vielen Vorschußlorbeeren versehen- der Fondatione Palazzetto Bru Zane zu verdanken, dem Centre de musique romantique française, der Organisation mit Sitz in Venedig, die sich der Förderung der Musik vergessener bzw. weniger bekannter französischer Komponisten aus der Zeit zwischen etwa 1780 und 1920 widmet. Es sei eine „Idealfassung“, die man da angeblich rekonstruierte habe, denn bis heute hat man das Stück seit der Uraufführungs-Premiere 1866 nur gekürzt aufgeführt.



Der Grund: Am Pariser Théâtre du Palais-Royal – damals wie heute ein Sprechtheater, keine Musikbühne – war es schon während der Proben 1866 wegen der gesanglichen Überforderung einiger Mitwirkender zu drastischen Eingriffen gekommen. Offenbach kürzte, stellte um, revidierte. 1867 komprimierte er das fünfaktige Werk auf ein vieraktiges. 1873 überarbeitete er es abermals. Er hat wohl nicht nur aus pragmatischen Gründen kräftig gekürzt, denkt man nach der neuerlichen Pariser Aufführung. Offenbach hatte einen untrüglichen Instinkt für das richtige Maß, für Notwendiges wie Überflüsiges in Gegensatz zu manchen seiner Bearbeiter, die meinen noch das letzte Fitzelchen aus Offenbachs Feder müsse auf die Bühne!


Der Musikwissenschaftler Sébastien Troester (und erstaunlicherweise nicht Jean-Christophe Keck, der bei Boosey & Hawkes die neue kritische Offenbach-Edition herausbrachte) begab sich im Auftrag der Bru Zane-Stiftung auf Urauffürungs-Schatzsuche und wurde fündig, wie man in einem Pressetext vorab verlautbaren liess. . Er hat die größtenteils unveröffentlichten, ja unbekannten Musiknummern des Stücks vor allem (nicht nur) in Frankreichs Nationalbibliothek gefunden (u.a. das Manuskript des Orchestermaterials), in der Sammlung des Thèâtre du Palais-Royale (zahlreiche Manuskript und Dokumente) und in der New Yorker Juliard School, wo das komplette Autograph der Partitur in Offenbachs Hand liegt. Kurz: Troester hat aus den Hinterlassenschaften diverser Archive, Theater, Manuskriptsammlungen, Zensurlibretti und Dirigentenpartituren alles zusammengetragen, was er finden konnte um eine Rekonstruktion der Fassung des Werks herzustellen, wie sie Offenbach und seine Librettisten geplant, aber nie zu hören und zu sehen bekamen, so erklärt er jedenfalls.

Anders als bei den unvollendeten „Les Contes d’Hoffmann“ mit ihren unzähligen Variationen, gab es bei „La Vie parisienne“ ja eine vollständige Partitur. Die ist nun wiederhergestellt und nun erstmals komplett, so wird behauptet. Von 35 Musiknummern sind 16 neu oder in der „Urfassung“ zu hören. Das Ergebnis:  Das überschäumende Werk perlt jetzt zwar hüpfender, um nicht zu sagen schneller, aber auch holpriger und wesentlich heterogener, auch länger vor sich hin. 


Romain Dumas der sechsunddreißigjährige Assistent von Marc Minkowski, und Orchesterchef an der Oper von Bordeaux, zeigt am Pult der Musicien du Louvre (in Partnerschaft mit dem Jeune Orchestre Atlantique und dem Choeur de Chambre de Namur) nur vordergründige Affinität für die Offenbachsche Musik und ihre Gangart. Es hat Tempo, aber es will nicht so recht zünden, was er da im Orchestergraben übereifrig kokelt. Der Sound ist dumpf und trocken, das Orchester klingt zu klein. Witz und Esprit Offenbachs wirken gebremst und wenig brilliant. Es fehlt der Mehrwert des „gewissen Etwas.“ Manche Entreakt- und Tanzmusik geht leer aus, wird verschenkt, wird einfach nur musiziert vor geschlossenem Vorhang oder während des Umbaus. 


Der Pariser Modemacher Christian Lacroix hat Regie geführt, hat die Ausstattung besorgt und das Kostümdesign kreiert. Er liefert tatsächlich atemberaubende, ja phänomenale Kostüme, nun das ist sein Handwerk, von dem er viel versteht. Seine Hüte, Perücken und Tournüren sind bemerkenswert. Es ist eine knallbunte Mixtur aus Belle Époque und Moderne, Offenbachzeit und Gegenwart. Das soll wohl eine Visualisierung der Gleichzeitigkeit von Geschichte und Aktualität, vom Geist der Belle Époque wie auch unsrem Zeitgeist meinen und auf die Aktualität des Stücks zielen.


Die Travestie-Einlagen allerdings sind weder wirklich komisch, noch machen sie Sinn. Die zahllosen Choreografien von Glystein Lefever sind nicht durchweg überzeugend. Auch die Don-Giovanni-Anleihen hätte man eher in den Verliesen der gestrichenen Musiknummern lassen sollen, sie verstören nur, wirken aufgesetzt.

Das Bühnenbild ist ebenso effektvoll wie funktional. Lacroix hat einen variablen achteckigen Einheitsraum mit Gerüsten Bauaufzug und Empore auf die Bühne gestellt, gleichzeitig Bahnhof, Salon, Wintergarten und Schlafzimmer, Straße wie Boudoir andeutend. Umbauten auch offener Bühne, Paris-Projektionen, Herauf- und Herabfahren von Dekorationen, Fahnen, gemalten Architekturfragmenten, Lampen und Schleiern.

Na ja!


Nicht zu vergessen: „Pariser Leben“ ist eine ironische Hymne auf das Zweite Kaiserreich und seine Hauptstadt als Theater mit doppeltem Boden. Jacques Offenbach schuf ein Unterhaltungstheater, das in bis dato nicht dagewesener Form die Bedürfnisse seines Publikums befriedigte und zugleich verspottete, das amüsierte und doch auch kritisierte: Unterhaltend satirisches Musiktheater.  Nicht zu verwechseln mit Operette. Das ist eine andere Gattung! Schon Egon Friedell hat in seiner geistreichen “Kulturgeschichte der Neuzeit“ von 1927 den Werken Offenbachs bescheinigt, dass sie beißende, salzige, stechende „Persiflagen der Antike, des Mittelalters, der Gegenwart“ seien, „aber eigentlich immer nur Gegenwart und im Gegensatz zur Wiener Operette, die erst eine Generation später ihre Herrschaft antrat, gänzlich unkitschig, amoralisch, unsentimental, ohne alle kleinbürgerliche Melodramatik, vielmehr von einer rasanten Skepsis und exhibitionistischen Sensualität, ja geradezu nihilistisch.“ Es ist der „Rückzug ins Kleinkarierte und ‚Lebkuchenherzhafte“ (so Peter Hawig), aber auch das Gemütliche, Affirmative, Heimatverbundene, Patriotische und Sentimentale, das die die Operette von der Offenbachiade unterscheidet.


Christian Lacroix hat das eigentlich begriffen, aber in seiner Inszenierung nicht wirklich konsequent umgesetzt! Er gibtleider dem Affen selbstverliebt immer wieder Zucker, spielt eben doch „Operette“, übertreibt gewaltig, lässt die Darsteller chargieren, dass es nur so kracht und veralbert, ja verkitscht die politische Stoßkraft des Stücks, macht aus derOpéra bouffe eine Opéra féerie, um es freundlich zu sagen.


Wie aus dem Theaterfundus wirken die etwas abgenutzten Möbel der fadenscheinigen, zum Teil wie in der Commedia dell’arte stammenden, bleich geschminkten Existenzen aus Hochstablern, Betrügern, Provinzadel, Möchtegerns, Habenichtsen und Möchtegernen, Kammerzofen und schrulligen Weibern mit gigantischem, oft barockem Kopfputz.


In "Pariser Leben" hat Offenbach ja das verschwendungs- und vergnügungssüchtige, die Reisenden ganz Europas anziehende, dieses faszinierend trügerische, heuchlerische, ja verlogene Paris der Belle Époque auf die Bühne gebracht, Aber in keinem seiner anderen Werke hat Offenbach die da Oben und die da Unten so scharf gegeneinander abgesetzt wie in „Pariser Leben“, worin Oberschicht und Unterschicht die Rollen tauschen, bzw. die Unterschicht Oberschicht spielt. Und beide Schichten amüsieren und blamieren sich gewaltig.


Ein Wort noch zur Handlung. Sie ist simpel und folgt dem Muster der Commedia dell’arte: Zwei Lebemänner, frustriert vom Begehren nach der gleichen Kokotte, täuschen einem adeligen schwedischen Touristenpaar Grand-Hotel-Luxus und Society-Pleasure vor, um die Dame ins Bett zu bekommen. Der Baron hingegen ist auf die Kokotte aus, die ihm wiederum die eigene Gattin unterjubelt. Ein Meisterstück von Überkreuz-Komödie, dieses „Pariser Leben“. Am Ende gibt es nur betrogene Betrüger. An der Tabl d‘ hôte sitzen Schuster und Handschuhmacherin samt Freunden, schwedische Adlige und pariserisches Dienstpersonal, Reiche und Arme zusammen. Am Ende platzt dem vermeintlichen General die Uniformhose, was im aufgedonnerten Finale zwar drastisch wie genüsslich besungen, aber nicht gezeigt wird. Auch dieser Effekt wird verschenkt zugunsten billiger Frivolitäten: Travestie-Peinlichkeiten, arschwackelndes Männerballett, ins geradezu Groteske übertriebene Karikaturen.

 

Nun erklang diese Partitur erstmals also „komplett“, so liest man. Von 35 Musiknummern sind 16 neu oder in nie gehörter Fassung zu hören. Wer ihre Urheberschaft beanspruchen darf, bleibt zu fragen. Sie machen das Stück allerdings nicht vitaler.  Der vierte Akt besteht weitgehend aus Spielszeneb mit ermüdenden Dialogen im kreischigen Tonfall. Der Komödienstadel lässt grüßen. Herbert Fritsch kann so etwas besse, weil derlei bei ihm zum artistischen, ja virtuosen Ausdruckssystem von komischem Theater wird.  Bei Lacroix gerinnt das überschäumende Werk -  mit Verlaub gesagt - zur schrillen Kostümshow.

 

Man muss zugeben: Lacroix hat die zwei Seiten Offenbachs, wie des Stücks versucht, darzustellen: Buffoneskes Heiteres und Melancholie, Anmut und Groteske, das Exzentrische und das Bittersüße, ja den Schmerz hinter dem Gelächter. Eine Mischung aus Kosmopolitismus und Haussmannschem Paris, aus Second Empire und heutiger Straßen- und Bekleidungskultur. Es ist eine ironische, aber auch immer wieder plakative Kollage, er spricht von einer „Kollision“. Es ist ein Kaleidoskop aus Kostümen, Möbeln und Bildern aus dem Geist von Damals und heute. Doch die feinen Andeutungen, die feinen Nuancen der bespiellosen Eleganz, Ironie und Diskretion Offenbachs (auch im Frivolen) hat Lacroix Lügen gestrafft. Sein Offenbach ist ein Offenbach in grellen Farben, in völlig überdrehtem Format, degoutant eigentlich. Zumal die musikalische Beglaubigung fehlte. Und am Ende siegt der von Offenbach nicht eigentlich gewollte Cancan.


Es gibt zwar einige musikalische Nummern wie das Moto-perpetuo-Rondeau „Je suis Brésilien“ des vergnügungs- wie verschwendungssüchtigen brasilianischen Touristen, eines stinkreicher „Goldfischs“ aus Brasilien, in erweiterter Fassung zu erleben. Ob das ein Gewinn ist,  sei wie in anderen Fällen von Erweiterung bekannter Stück allerdings dahingestellt. Nicht immer bedeutet Maximum gleich Optimum.  Wer jede Alternativfassung, jede neue Arie, jeden Musikschnipsel, jeden aufgefundenen Dialog der bestehenden (wenn auch gekürzten) Fassung hinzufügt, riskiert, das Stück zu lähmen oder wenigstens langatmiger werden zu lassen, raubt ihm womöglich Spieltempo und dramaturgische Notwendigkeit. So geschehen in der Bru Zane-Fassung.

Als Bereicherung wird man sicher das wiederaufgefundene Diplomatenterzett betrachten dürfen. Auch die Farandole, mit herzhaft folkloristischem Text („Pour venir mangiar a questo. / Qu’on nous serve la Bouillabaisse“ ist recht originell.  Auch wenn Deutsche und Marseiller singen: „Sauerkraut mit Schink und Wurst / Gibt mir immer, immer Durst“ ist das auf der Habenseite der Neufassung zu verzeichnen.  Aber keinesfalls alles, was da wiederentdeckt und eingefügt wurde, lohnt und ist Gewinn.


Die Sänger (im Programmheft werden leider nur die Doppelbesetzungen genannt, wer also in Paris sang, ist nicht eindeutig zu ermitteln) sind durchweg gut, die Handschuhmacherin, Métella und der Brasilianer hinterließen die stärksten Eindrücke. Spielfreude ist hingegen allen zu bestätigen. Aber etwas Weniger an übergreller Karikatur und billigem Slapstick wäre mehr gewesen. Dennoch kann man der Produktion das Attribut des Außerordentlichen nicht absprechen.


Es stellt sich jedoch die Frage, was von den „Neufunden“ tatsächlich von den Musikwissenschaftlern des Palazetto Bru Zane gefunden wurde, was nicht schon in Jean-Cristophe Kecks kritischer Fassung/ Druckausgabe von 2000 (die damals den Deutschen Musikeditionspreis bekam) ediert wurde.  Mir liegt ein bedenkenswertes wie aufschlussreiches Dossier von Jean-Christophe Keck vor, das ein recht kritisches, wo nicht beschämendes Licht auf die Bru Zane-Fassung wirft. Aber damit werden sich wohl Juristen befassen müssen.


Die kräftig „gehipte“ Produktion wird von Rouen aus durch Frankreich und Belgien touren (Tours, Paris, Marseille, Nizza, Limoges, Montpellier und Lüttich), im Dezember ist die Produktion – als zweite französische Station nach Rouen - im Pariser Théâtre des Champs-Élysées zu erleben. ARTE wird sie am 2. Januar übertragen. Der Pariser Premiere am 21. Dezember wohnte ich bei.