Hans Swarowsky

Markus Grassl und Reinhard Kapp (HG.):
Der Dirigent Hans Swarowski (1899-1975)
Musik, Kultur und Politik im 20. Jahrhundert, Böhlau Verlag 2022, 1052 Seiten, 90 €



Umfassende Studien zum „Dirigentenmacher“
Hans Swarowski. Schon jetzt ein Standardwerk


Schon zu Lebzeiten war Hans Swarowski eine Legende. Er war Musikhistoriker, Pädagoge, Dirigent, Schriftsteller, Dramaturg und einer der meistgeschätzten „Dirigentenmacher“ (Claudio Abbado, Zubin Metha, Mariss Jansons, Giuseppe Sinopoli und viele andere mehr waren seine Schüler). Jetzt ist erstmals ein opulenter Band erschienen, der die Vielseitigkeit Swarowskys, seiner institutionellen wie künstlerischen, Bedeutung, seiner politischen Ambivalenzen, und seiner persönlichen Ausstrahlung würdigt. Angehängt ist eine Matrialsammlung. Die Arbeit wurde nur ermöglicht  durch ein Symposium an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst sowie umfangreiche Förderung einer Reihe von Institutionen.


Sie vermittelt in nicht weniger als 32 Kapiteln ein Stück Wiener Nachkriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Hans Swarowsky war der Sohn eines Wiener jüdischen Großindustriellen und studierte an der Wiener Universität Kunstgeschichte und Philosophie. Bei Arnold Schönberg und Anton Webern nahm er Unterricht in Musiktheorie und Dirigieren. Er wurde Korrepetitor und Kapellmeister an zahlreichen  Opernhäusern, in den Dreißigerjahren schließlich an der Hamburgischen und an der Berliner Staatsoper. Von 1937 bis 1940 war Swarowsky am Zürcher Opernhaus tätig, bevor er durch die restriktive eidgenössische Immigrationspolitik gezwungen, ins nationalsozialistische Deutsche Reich zurückkehrte. Da bleiben viele Fragen offen. „Die Ambivalenzen von Verstrickung und Distanz“ (Markus Grassl/Reinhard Kapp) lassen sich heute nicht mehr eindeutig klären.


Die unterschiedlichen politischen Systeme, die er durchlebte, seine jüdische Herkunft, zeitweilige Berufsverbote, die ständige Bedrohung durch die Nazis und infolgedessen seine Loyalitätsbekundungen gegenüber dem NS-Regime (bei gleichzeitgem Liebäugeln mit dem Kommunismus) begründeten die Widersprüche und Paradoxien seines Lebens. Von 1944 bis zu seinem letzten Konzert am 9. Januar 1945 (dann hatte er Berufsverbot) war er im besetzten Polen Chefdirigent des Philharmonischen Orchesters des Generalgouvernements in Krakau. Von Joseph Goebbels als „Polenfreund“ angefeindet, nutzte er seine Position und seine Beziehungen zur Rettung polnischer und jüdischer Menschen, was ihm von den US-Entnazifizierungsbehörden hoch angerechnet wurde. 


Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war er einige Jahre Chefdirigent der Wiener Symphoniker und Direktor der Grazer Oper. Danach widmete er sich vor allem seiner Lehrtätigkeit an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst. Notentreue, Partituranalyse, Beachtung der Intentionen der Komponisten und systematische Behandlung der Aufführungspraxis waren seine Prinzipien, die er weitergab. Vor allem aber wollte er stets Musik als Teil der Kulturgeschichte begriffen wissen.


Universale Bildung, bezwingende Eloquenz, gehobener Lebensstil und eine elegante Erscheinung machten seine Autorität aus. Swarowsky hat bis zu seinem Tod regelmäßig an der Wiener Staatsoper dirigiert und bemerkenswerte Tondokumente hinterlassen, über die Martin Elste ausgiebig würdig. Wilfried Koch erinnert an die leider wenig populäre, aber denkwürdige und interpretatorisch spektakuläre Swarowsky-Produktion von Wagners "Ring" (Nürnberg 1968). Über all das erfährt man so viel, so differenziert dargestellt und so gründlich recherchiert wie nie zuvor. 18 Autoren haben an dem 1052 Seiten umfassenden Monumentalwerk mitgearbeitet. Schon jetzt ist es ein Standardwerk, auch dank hochinformativter Personen- und Werkregister, Bibliographie und Quellenverzeichnis. 

 
Rezension auch in "Das Orchester"