Triumph der Musik

 

Demokratische Massenmusik oder Soundtrack einer Epoche?
Expansion und Emanzipation der Musik in der Moderne


Tim Blanning: Triumph der Musik. Von Bach bis Bono.

Bertelsmann Verlag. Edition Elke Heidenreich. 448 Seiten



Schon Franz Liszt - der Supervirtuose und Frauenheld - wurde das Phänomen der „Beatles-mania“ zuteil: massenhysterische Verehrung durch sein Publikum und Erhebung zur Kultfigur. Heute sind derartige Phänomene in der sogenannten E- wie in der U-Musik selbstverständlich. Und überall wird man mit Musik berieselt, ob im Supermarkt, im Restaurant, im Flugzeug oder im Taxi. Ist das der Triumph der Musik?  Oder nur ihre Reduzierung auf den bloßen Soundtrack einer Epoche der verordneten Verblödung? Der britische Historiker Tim Blanning, renommierter Oxford-Gelehrter und alles andere als ein Musikologe, wie er freimütig bekennt, entscheidet die-se Frage nicht. Er betrachtet in seinem Buch wertneutral 400 Jahre Musikgeschichte, in der Ab-sicht, sich mit „Status, Ziel und Zweck, Ort und Raum, Technik und Emanzipation“ der Musik und ihrer Künstler auseinander zu setzen. Es ist ein beeindruckender Parforceritt durch alle Gattungen und Genres von Musik.


Von Bach, Händel, Haydn, Mozart und Beethoven zieht Blanning eine Entwicklungslinie bis hin zu Brain May mit der E-Gitarre auf dem Dach des Buckingham Palastes.  Dieses Konzert zu Eh-ren der Queen und ihres Goldenen Thronjubiläums am 3. Juni 2002 ist für Tim Blanning „der Höhepunkt von dreihundert Jahren Entwicklung“ der Musik. Ob man diese Musik nun mag oder nicht, ist für ihn unerheblich. Musik, so stellt er nüchtern fest, ist heute demokratische Massen-musik. Blanning stellt denn auch dar, wie die Musik sich aus der bloß begleitenden Funktion im Lauf der Jahrhunderte emanzipierte und eine eigenständige, zentrale Stellung im gesellschaft­li-chen Gefüge und menschlichen Erleben eroberte. Blannings Darstellung ist eine soziologische, vor dem Hintergrund historischer Vorgänge, sie ist eingängig, oft amüsant, in leicht verständli-cher Sprache. Dabei ist der Autor umfassend kulturhistorisch gebildet, aber er ist kein Faktenkrämer.    


Das individuelle Musikstück als Kunstwerk interessiert Blanning wenig. Weshalb man in seinem Buch auch keinen musikästhetischen Diskurs findet. Stattdessen entwirft er ein Panorama über Epochen und Genres hinweg vom Musiker als Lakai über die ersten Stars der Musikszene im 18. Jahrhundert, die Virtuosen und Pultstars im 19. und 20. Jahrhundert bis zu Kult-Komponisten wie Wagner und zu den Megastars moderner elektronischer Musik wie Bono, deren Einfluss weit über das Konzertpodium hinaus ins Zentrum  der Gesellschaft reicht.  Blanning gelingt das souverän, undogmatisch, erfrischend und ohne erhobenen Zeigefinger. Seine zentrale These ist die von der Expansion und Emanzipation der Musik in der Moderne, ihre Befreiung von den Zwängen von Hof und Kirche.  Welche Rolle dabei der rechte Ort als Faktor der Entwicklung spielt, erläutert Blanning eindrücklich am Beispiel Bachs, der, in Leipzig am falschen Ort ge-wesen sei, im Gegensatz zu Händel und Haydn in London oder Wien. Dass Öffentlichkeits-wirksamkeit, kommerzielle Effekte und Popularität für den Siegeszug der Musik verantwortlich sind, macht Blanning in fünf Kapiteln klar: Im ersten wird die Entwicklung des Musikers vom Sklaven und Künstler von Gottes Gnaden bis hin zum charismatischen Öffentlichkeitshelden und Star geschildert. Im zweiten zieht er einen Bogen von Musik als Ausdruck der Macht bei Lud-wig dem Vierzehnten über den Geniebegriff bei Beethoven und Wagners Zukunftsmusik bis hin zu Jazz und Rock. Dann folgt ein Kapitel über Orte und Räume der Musik, vom privaten Sépa-rée des Fürsten über Hofopern, Kirchen und bürgerliche Konzertsäle bis zu den Konzerthäusern und Sportstadien als Musikveranstaltungsorte unserer Zeit. Im vierten Kapitel stehen Instru-mente und die Entwicklung der Technik im Zentrum seiner Betrachtung, von der Stradivari übers Klavier zum Saxofon. Aber auch die Elektronik, Radio und Fernsehen werden für den explosionsartigen Siegeszug der Musik verantwortlich gemacht. In einem letzten, abschlie-ßenden Kapitel geht es um das, was man Nationalgefühl nennt, und um Musik als Medium der Befreiung der Sexualität und der Emanzipation des modernen Menschen.   


„Die Zeit macht die Kunst“. Das will Blanning mit seinem Buch zeigen. Die "Entwicklung der Öffentlichkeit und die Transformation der Räume, die Säkularisierung und Sakralisierung der Musik, die Romantikrevolution, das immer schnellere Tempo der Technikentwicklung und der Aufbruch der Jugendkultur im zwanzigsten Jahrhundert", all das hat die Musik in ihre heutige Position gerückt. Faszinierend, wie es Blanning gelingt, darzustellen, „dass die Musik in der modernen Welt verwandelt wurde und ihrerseits dazu beigetragen hat, diese Welt zu verwan-deln.“  Ob positiv oder negativ interessiert ihn nicht. Ihn interessiert nur der „Triumph der Musik als solcher“.  Aber jedem Triumph wohnt meist ein Verlust inne. Auch bei der Musik ist das so. Doch darüber schweigt sich Blanning aus. Dennoch: Ein großer Wurf, dieses Buch.

 

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