Anatevka Leipzig

Foto: Kirsten Nijhof


Betroffen machendes jüdisches Sittenstück aus dem Schtetl


"Anatevka" an der Leipziger Musikalischen Komödie

Premiere  11. 02. 2023

 


Es ist eines der erfolgreichsten Musicals, obgleich es wirklich kein typisches Musical ist. Es ist sehr textlastig, eher ein „Schauspiel mit unglaublich viel Musik“, wie Tobis Engeli, der Dirigent der Leipziger Neuproduktion von „Anatevka“ im Programmheft erklärt, zudem eine ungewöhnliche Mischung aus dem Kanon von Broadwaymusicals, Klezmer, jüdischer Folklore, Chassidischen Tänzen und unwiderstehlichen melodischen Ohrwürmern. Auch die Handlung ist keineswegs typisch fürs Musical. Im Gegenteil: keine Spaß-Feier, keine fröhliche Welt, kein Happy End.  Eher ein trauriges Stück, in dem es um Vertreibung, Antisemitismus, Leid und Klage, Ausgrenzung und Unterdrückung geht. Aber auch um Hoffnung und „Humor als Anker“, wie Regisseur Cush Jung erklärt. Es ist typisch jüdischer Humor  und jüdische  Hoffnung, die die Erzählung von Scholem Alejchem und seine Hauptfigur, den Milchmann  Tevje beseelt. Ein Sittenbild des ostjüdischen Schtetel.


Jerry Bock schuf auf der Grundlage dieser Erzählung, mit über 3.000 Aufführungen allein am Broadway, eines der erfolgreichsten, aber auch tragischsten Meisterwerke des Genres. „Anatevka“ schildert Humor und Leid herzergreifender Figuren zwischen Überlebensfreude und Katastrophe in der wahrscheinlich lebensbejahendsten „Liebesverwicklungsheiratstragikomödie“ (wie sie einmal genannt wurde) des 20. Jahrhunderts.

 

Bei der Uraufführung am 22. September 1964 im New Yorker Imperial Theatre mit Zero Mostel als Tevje war das Publikum begeistert, aber auch sehr befremdet, mancher erfuhr zum ersten Mal von der ostjüdischen Welt und von antijüdischen Pogromen. Doch dann begann der Welterfolg des mit vielen Preisen ausgezeichneten Musical.


Der Originaltitel „Fiddler on the Roof“ (Ein Fiedler auf dem Dach) bezieht sich auf die Bildkomposition „Der Geiger“ des französischen Malers polnisch-jüdischer Herkunft Marc Chagall. Der Geiger musizierte in Chagalls Heimatstadt  an den Knotenpunkten des Lebens (Geburt, Hochzeit, Tod): Für Chagall war er die Verkörperung des Künstlers schlechthin. Im Musical Anatevka definiert Tevje diese Figur: „Ein Fiedler auf dem Dach…Klingt verrückt, nicht wahr? Aber in unserem Dörfchen Anatevka ist das so…Jeder von uns ist ein Fiedler auf dem Dach. Jeder versucht, eine einschmeichelnde Melodie zu spielen, ohne sich dabei das Genick zu brechen.“


In der suggestiven, so quirlig-vitalen wie Betroffen machenden Inszenierung von Cush Jung tritt er tatsächlich auf, der Fiedler auf dem Dach, mit ihm beginnt und endet das Stück. Er ist so etwas wie der Geist des Stücks, ja des jüdischen Volks an sich, und er bildet eine szenische Klammer in einer Inszenierung, die sehr realistisch, aber auch zauber- und traumhaft daherkommt. Bühnen- und Kostümbildner Karel Spanhak hat ein Schtetl wie aus dem Bilderbuch auf die Bühne der Musikalischen Komödie gestellt, eine Welt die es so heute nicht mehr gibt.  Die Inszenierung ist Erinnerung und Hommage an die historische ostjüdische Lebenswelt, die sich wohl nur wenige  noch vorstellen können

In der Leipziger Neuinszenierung wird sie in authentischen Kostümen wieder lebendig, ohne museal oder allzu folkloristisch zu wirken, Es ist eine liebevolle und sorgfältige Rekonstruktion der ärmlichen, jüdischen Dorfatmosphäre, mit verschiebbaren Holzhäuschen (die gedreht ihr Inneres preisgeben), Bretterwänden und Zäunen, magisch beleuchtetem Wald und traditionellen Riten und Gebräuchen. Das Wort „Tradition“ ist ein zentraler Begriff des Stücks.


Die Geschichte, die das Musical erzählt, spielt 1905 in dem kleinen Örtchen Anatevka, in der Nähe von Kiew. Zur Erinnerung: Die jüdische Bevölkerung stellte am Ende des19. Jahrhunderts etwa neun Prozent der Gesamtbevölkerung und 30 Prozent der Städtischen Bevölkerung der Ukraine.


Tevje ist ambulanter Milchhändler und hat fünf Töchter, von denen drei im heiratsfähigen Alter sind. Doch die Tradition verpflichtet ihn, immer zuerst die Älteste zu verheiraten. Außerdem ist es in Anatevka üblich, dass die Ehe über die Heiratsvermittlerin angebahnt wird. Über ihre Vorschläge entscheiden die jeweiligen Väter, die untereinander auch den Ehevertrag aushandeln. Tevje freilich muss erleben, wie diese Regel, nach der er selbst und seine Frau Golde vermählt wurden, von seinen Töchtern nach und nach außer Kraft gesetzt wird. Aber er lernt auch dazu, lernt, dass Tradition nicht alles ist, sondern Gefühl und Menschlichkeit mehr bedeuten.  Immer wieder redet er mit seinem Gott, mit sich selbst und mit dem Zuschauer, disputiert er dialektisch nach dem Motto einerseits ... andererseits. Es ist jüdische Dialektik von ihrer sympathischsten Seite, die da von Scholem Alejchem exemplarisch vorgeführt wird.


Regisseur und Lichtdesigner Cusch Jung hat diese zentralen Momente um Tevje herum großartig zum lebenden Bild eingefroren, alle Anwesenden erstarren förmlich, und er hat diese Szenen raffinert theatralisch beleuchtet.


Die jüdische Bevölkerung von Anatevka lebt unsicher. Eines Tages teilt der Wachtmeister Tevje vertraulich mit, dass er die Anweisung zu einem Pogrom auch in dieser Stadt erhalten habe. Ausgerechnet zur Hochzeitsfeier von Zeitel und Mottel schlagen die Russen los und zertrümmern systematisch den ohnehin geringen Besitzstand der Juden. Schließlich folgt der Erlass, dass sie nicht länger geduldet sind. Sie müssen Anatevka binnen drei Tagen verlassen. Es spielt keine Rolle, dass sie teilweise schon seit Generationen in dem Ort wohnen. Sie haben drei Tage Zeit, um ihr Hab und Hab und Gut, das sie nicht mitnehmen können, zu verkaufen. Dann verstreuen sie sich in alle Winde: nach Palästina, in die USA, nach Warschau und nach Krakau. Tevjes Tochter Hodel folgt ihrem Studenten, der nach Sibirien verbannt wurde. Ein trauriges Stück.


Es steht und fällt natürlich mit dem Milchmann Tevje, einem bodenständigen und doch sensiblen  Kerl, der mit seinem Schatz von Bibelzitaten jüdische Selbstverteidigung durch Sophistik als sanfte Kunst des Überlebens vorführt. 

Milko Milev singt, tanzt und spielt diesen Tevje herzergreifend, sympathisch ohne jede Übertreibung, geradezu diskret und immer human temperiert.  Er ist umgeben von einem großen, sehr großen und überzeugenden Darstellerensemble, das keinen Wunsch offenlässt. Herausragend Angela Mehling als seine Gattin Golde, die Töchter Zeitel (Olivia Delauré), Hodel (Nora Lentner), Chava (Maria Hammermann),die Heiratsvermittlerin Jente (Sabine Töpfer), der Schneider Mottl (Jeffery Krueger), der Student Perchik (Peter Kubik) und der Russe Fedja (Stephen Budd).  Es wird durchweg natürlich und textverständlich gesungen. Getanzt wird fabelhaft und stilgenau. Mirko Mahr hat mitreißende, wirbelnde Tänze choreographiert, Rundtänze, Chassidische Ritualtänze, Flaschentänze und russische Tänze.  Das Ballett der Musikalischen Komödie zeigt sich in bester Form, ebenso beeindruckend sind Chor und Zusatzchor des Hauses. Tobias Engeli versteht es, das Orchester der Musikalischen Komödie zusammen zu halten und diesen Mix aus Broadway und Klezmer, Sentimentalität und Temperament angemessen zu spielen.  Freilich, etwas mehr Drive und Schärfe, Biss und Chuzpe hätte nichts geschadet. Alles in allem aber war das eine furiose Aufführung.


Am Ende der Vorstellung wird auf den Vorhang mit dem Bild des Dorfes Anatevka ein Text von wenigen Zeilen projiziert.  Auf ihm ist zu lesen, dass nach der ersten russischen Invasion 2014 Juden aus den östlichen Gebieten der Ukraine gen Westen fliehen mussten und in der Nähe von Kiev ein Flüchtlingslager mit Namen Anatevka gegründet haben. 2022 mussten sie nach dem Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine erneut fliehen, so liest man. Ein diskreter, aber deutlicher Hinweis auf die ungebrochene Aktualität und Brisanz dieses Musicals.



Rezension in nmz-online