Cagnoni "Re Lear" Martina Franca

Martina Franca:

Ausgrabung von Cagnonis “Re Lear” und Glucks "Orfeo" in "neapolitanischer" Fassung 



Zum 35. Male findet in diesem Jahr zwischen dem 16. Juli und dem 5. August das “Festival della Valle d´Itria” in Martina Franca statt. Es ist das südlichste Opernfestival Italiens, das zu Unrecht stiefmütterlich behandelt wird, denn es ist das einzige Europas, das sich ausschließlich auf das Ausgraben vergessener  Opern oder unge­öhnlicher Fassungen von Opern spezialisiert hat. In diesem Jahr stehen in Martina Franca eine neapolitanische Fassung von Glucks „Orfeo ed Euri-dice“ und die Uraufführung der Shakespeare-Oper „Re Lear“ des Verdi-Zeitgenossen Antonio Cagnoni im Mittelpunkt. 


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Wenn man es nicht wüsste, würde man viele Nummern dieses "Orfeo" nicht unbedingt dem von Gluck zuordnen. Sie stammen ja auch von Johann Christian Bach. Der hat für die Londoner Erst-aufführung 1770 Glucks Oper „Orfeo ed Euridice“ bearbeitet, indem er dem Stück ein neues Libretto unterlegte, die Handlung auf acht Personen erweiterte (einschließlich der Unterwelt-götter Pluto und Proserpina), die Instrumentierung änderte und eine ganze Reihe von Arien, Ballettmusiken und Chöre hinzu komponierte. Auch wenn Bach Glucks Opernreform in den Rücken fiel: Diese abendfüllende Fassung war die am häufigsten gespielte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Zweifellos eine Huldigung an Gluck, aber fast schon im Offenbachschen Sinne, denn am Ende geben in dieser Fassung die Götter Orpheus seine Geliebte nur zurück, weil sie von der schönen Arie „Che faro senza Euridice“ so überwältigt sind. In Martina Franca singt der Countertenor Francois Bitar Razek den Orfeo. Eine gewöhnungsbedürftige Stimme.


Als Glucks „Orfeo“ 1774 auch in Neapel vor dem spanischen König Ferdinand dem Vierten zum ersten Mal gezeigt werden sollte, hat der Mozart-Zeitgenosse Josef Myslivecek die Fassung Bachs noch einmal überarbeitet für das Teatro San Carlo. Davon ist eine Partitur in Neapel erhal-ten geblieben, und in dieser bizarren, stilistischen Misch-Fassung, die schon den Gluck-Zeitge-nossen Charles Burney irritierte – uns heute aber durchaus fasziniert - zeigt man das Stück nun zum ersten Mal wieder seit mehr als hundertfünfzig Jahren im ausgrabungsfreudigen Festival Valle d´Itria in Martina Franca.


Martina Franca liegt in Apulien, am Stiefelabsatz der italienischen Halbinsel, in der Mitte zwi-schen Bari und Taranto, im Itria-Tal, einem der landschaftlich idyllischsten Gebiete Süditaliens, das vom Tourismus noch nicht überflutet ist, mit endlosen Wein- und Olivenbaumpflanzungen, kräftigen Stei­neichen – und Kiefer­wäldern und jenen spitz zulaufenden, runden Bauernhäusern aus geschichtetem Naturstein, den „Trulli“, die der Landschaft ihren unverwechselbaren Stempel aufdrücken. -


Die Stadt Martina Franca, im zehnten Jahrhundert Zufluchtsort der Christen vor den Sarazenen, präsentiert sich heute als eine der schönsten Barockstädte Italiens. Im Innenhof des 1668 erbau-ten  Palazzo Ducale spielt man nun seit 35 Jahren unter freiem Himmel Oper. Die Aufführungen beginnen nicht vor 21.00 Uhr, denn tagsüber steigen die Temperaturen im Juli nicht selten auf mehr als 40 Grad im Schatten. Auch für die Mitwirkenden ist das eine Strapaze, aber auch etwas Einzigartiges, wie der Dirigent Massimiliano Caldi bestätigt.


"Hier zu arbeiten bedeutet, außerhalb von allem Gewohnten zu sein. Man vergisst sein normales Leben und seinen Berufsalltag. Hier denkt man nur an die Oper, die man probt." 


Die Inszenierung des „Orfeo“ von Toni Cafiero im abstrakten, modernistischen  Halbrund mit Stufen und Rampen, das Eric Soyer entwarf, ist in manchen Momenten ein szenisches Ereignis von  eher unfreiwillig parodistischem Rang. Dafür ist die Uraufführung der Oper “Re Lear”, des Verdi-Zeitgenossen Antonio Cagnoni um so sensationeller. Cagnoni hat die König-Lear-Oper geschrieben, die Verdi uns leider vorenthielt. Verdis Librettist Ghislanzoni (er schrieb u.a. das Textbuch der "Aida") hat für Cagnoni Shakespeares tragisches Drama der Machtaufteilung des müden Königs an seine ehrgeizigen Töchter bearbeitet. Der nicht Shakespearesattelfeste Zuschauer bzw. Zuhörer versteht Ghislanzonis Plot nicht unbedingt auf Anhieb, um so mehr die Musik Cagnonis. Der Dirigent des „Re Lear“, Massimiliano Caldi: 


"Für mich ist diese Oper eine Offen­barung: Die Musik, die Struktur, der Erfindungsreichtum. Sie ist eine  Art veristischer Grand Opéra. Man hört schon den jungen Puccini, Mascagni, Leoncavallo, aber auch noch Ponchielli, und man hört die ganze alte Tradition vor Cagnoni."


"Re Lear" ist die letzte, zu Lebzeiten nie aufgeführte der 19 Opern, die Cagnoni geschrieben hat, ein Werk des Nichtmehr und Nochnicht, der großen Effekte, aber auch der leisen Töne und der eher statischen als dramatischen Gangart, der offenen Dramaturgie, der kurzen Sequenzen und unerwarteten Wendungen. Man könnte sagen: Verdi, von Debussy nachkomponiert und vom jungen Puccini instrumentiert. Und doch eine ganz eigene Musik. Nicht unbedingt für den Massengeschmack. Eher für Opern-Kenner und Conaisseure.


Die strenge Inszenierung von Francesco Esposito in den Bühnenbildern von Nicola Rubertelli kommt zwar als Hommage an die Wieland Wagnersche Weltenscheibe etwas spät, aber sie hat auf felsigem Kreisrund bei windgepeitschten Rauchschwaden unterm südlichen Sternenhimmel berührende, ja magische Momente und offenbart Cagnoni als großen, mit allen Tendenzen seiner Zeit vertrauten Opernkomponisten und Erfinder einer sehr individuellen Melodik und Harmonik.


Constantino Finucci singt mit edlem Bariton die Titelpartie in der „König Lear“-Uraufführung in Martina Franca, die Sopranistin Serena Daolio ist seine Tochter Cordelia, beide singen ausge-zeichnet. Aber auch die übrige Besetzung ist durchgängig sehr überzeugend. Massimiliano Caldi hebt die Oper mit dem vom Festival je nach Bedarf zusammengestellten „Orchestra Internazio-nale d´Italia“ sehr  engagiert und diszipliniert aus der Taufe.


Ob das anspruchsvolle Werk mit sechs großen Gesangspartien und sechs Diener- und Nebenrollen, mit großem Chor (zu Gast ist der Slowakische Chor Bratislava) außerhalb dieses Festivals eine Chance hat, bleibt zu bezweifeln. Für  die Sänger ist das nicht unbedingt ermutigend, dennoch begreifen die meisten von ihnen trotz kleiner Gagen und kurzer Probenzeit ihr Engagement in Martina Franca als große He­rausforderung. Serena Daolio, die Interpretin der Königstochter Cordelia:


"Für uns ist es sehr schwierig, die richtige Art des Gesangs, die richtige Rollen­gestaltung zu finden, denn wir singen eine wiederentdeckt Oper, von der es keine Aufnahmen gibt. Niemand kann uns helfen. Das ist wirklich sehr schwierig. Aber es ist auch eine große Freude, denn wir sind hier die Ersten, die diese  Opern singen dürfen!"


Und für den Zuschauer war es ein Glück, dem Ereignis der "Re Lear"-Geburt Cagnonis beiwohnen zu dürfen!




Beiträge für SWR 2, Musik Aktuell, MDR, Figaro, WDR, Mosaik