Werner Ross Der wilde Nietzsche

 


Werner Ross: Der wilde Nietzsche
oder Die Rückkehr des Dionysos

DVA 208 S., DM 29,80, März 1994

 

 

Als Siebzehnjähriger las Friedrich Nietzsche das Buch "Der von seinen Fesseln befreite Prometheus" von Percy Bysshe Shelley. So wie dieser Autor beanspruchte, ein Weltverbesserer zu sein, fasste auch Nietzsche damals bereits den Plan, die Säulen des alten Tempels abendländischen Denkens zu zerbrechen und den antiken, wilden, ungebändigten Gott Dionysos wieder zum Leben zu erwecken. Natürlich vom Schreibtisch aus, wie Marx und andere Weltverbesserer vor und nach ihm. Nietzsches Philosophie sollte denn auch wirkungsmächtig dem Ende der Moral, der Religion, der blinden Vernunftgläubigkeit und der Umwertung aller Werte seines Jahrhunderts den Weg ebnen. Es hatte allerdings einige Jahrzehnte gedauert, bis der gestreng erzogene Pastorensohn, der später so sittsame Basler Professor und Philosoph im Bannkreis Richard Wagners persönlich jene Wildheit bei sich zuließ, die Dionysos eignet, der von ihm gepriesene Gott der alten Griechen.


Friedrich Nietzsche war, wie der Titel der 1980 erschienenen, aufsehenerregenden Biographie von Werner Ross zu entnehmen war im Leben zumeist ein "ängstlicher Adler".

In seinem jüngsten, auf seinem ersten aufbauenden Nietzschebuch stellt der Münchner Literaturwissenschaftler und Nietzschekenner Werner Ross dar, "wie das Wilde in dem gesitteten Professor brodelte, wie es in seine Träume drang und sich in seine Musik flüchtete, wie es seine Phantasie belebte und wie es seine Religion wurde - bis am Ende der Wahnsinn ihn wirklich befreite, so dass er die Kleider abwarf, wild in die Tasten des Klaviers schlug, in wilden Sprüngen sein Zimmer durchmaß und abwechselnd Dionysos oder einer seiner Satyrn war."

Freilich, das war ein Endpunkt. Der Weg bis dahin war lang, arbeitsintensiv und peinvoll im wahrsten Sinne des Wortes. Ross zeichnet den Weg vom "artigen Kind" im Pfarrhaus in Röcken bei Leipzig und in Naumburg über den in Schulpforta bereits auffällig begabten "Knaben mit Feuer und Schwert" bis zum rebellierenden und schließlich aus aller Norm größenwahnsinnig ausbrechenden, krankhaft-sensiblen Professor nach, mit rasanten Strichen, aber einleuchtend knapp und fassbar formulierten Ergebnissen präziser Nietzsche-Analysen.  Mit unanfechtbarer Sachkenntnis und klugem Aufbau verdeutlicht Werner Ros in seinem zweiten, erstaunlich schmalen Nietzschebuch, dass alle Wege in Nietzsches Leben und Denken auf den „Wahn“ zuführten, keineswegs allein des syphilitischen Infekts wegen. Dessen Spätfolgen verhalfen schließlich nur noch zum Ausbruch, was im Denken sich lange und gründlich vorbereitet hatte. Als der frühgebändigte Pastorensohn sich 1889 endlich erlaubte, wild zu sein und alle Hüllen bürgerlicher Zucht, ja Selbstzucht, im Wahnsinn abzustreifen, er war damals bereits 45 Jahre alt, da hatte sich sein Lebenswerk bereits vollendet.


Darauf hinzuweisen, dass Nietzsches Wildheit nicht nur ein psychologisch-biographisches Phänomen, ein Wesenszug persönlicher, von Jugend an erstrebter Selbstbefreiung war, sondern auch struktureller Bestandteil seiner Philosophie, die sich aus den idealistisch-allzu idealistischen Fesseln abendländisch-deutschen Systemdenkens befreit hatte, ist das vielleicht bedeutendste Verdienst dieser neuerlichen Auseinandersetzung des Nietzsche-Spezialisten Werner Ross.


Nietzsche war als Mensch und Philosoph, als Kulturkritiker und Schriftsteller eine zerbrechlich kraftvolle Erscheinung jenseits aller bürgerlichen Regeln und Botmäßigkeiten, Ideologien und weltanschaulicher Raster seiner Zeit. Er war eben, wie Werner Ross schreibt, ein Wilder. Aber eben nicht erst, als er sich, wie berauscht - tatsächlich aber im Spätstadium luetisch bedingter Paralyse - unter lauten Gesängen und Rasereien am Klavier mit Dionysos identifizierte. Nicht die Theatralik seiner finalen Drohgebärde in halb kindischem, halb genialischem Zustand, sondern die permanente Wildheit seiner radikal kritischen, außenseiterhaft-unangepassten Weltsicht und -Beschreibung war es, die die Modernität und Faszination Nietzsches ausmachte und die Zeitgenossen wie Nachgeborene noch heute begeistert und anstachelt. Freilich: das Phänomen Nietzsche in seiner nihilistischen Unangepasstheit und infektiösen intellektuellen Gefährlichkeit - zu schweigen von seinen Folgen und historischen Vereinnahmungsversuchen - hat viele Facetten und ist in seiner Komplexität nicht auf einen Nenner zu bringen. Das versucht der kluge Werner Ross auch gar nicht. Es geht ihm nur um die Aufarbeitung eines Aspekts von Nietzsches Leben und Werk, allerdings eines wesentlichen: die endliche Loslösung Nietzsches vom Über-Ich seiner Mutter und ihrer "Naumburger Tugend" (worin alle Konventionen der Zeit kulminierten), die über Jahrzehnte wie ein Alpdruck auf Verhalten und Fühlen, Leben und Werk des Philosophen lastete und die wirkliche Selbstfindung und Befreiung Nietzsches aus den inneren Zwängen seiner bürgerlichen, streng protestantisch moralischen Herkunft, sein "Glück" letztlich verhinderte.


Die gewiss fesselnde Überlegung, welchen Weg wohl seine Philosophie eingeschlagen hätte, wenn Nietzsche sich frühzeitig zu moralischer Freiheit, zu erotischer Selbstverwirklichung und emotionaler Stabilität durchgerungen hätte und damit wirklich emanzipiert von seiner Mutter, führt ins Spekulative. Günter Schulte hat diese zweifellos sich aufdrängenden Fragen nach dem "Warum" der letztlich so kämpferisch-autoritären, ja chauvinistisch ausartenden Philosophie der verdrängten Weiblichkeit Nietzsches und dem "Was wäre gewesen, wenn" seinerzeit in einer mutigen und sehr beflügelnden, gleichwohl von der Nietzsche-Forschung weitgehend ignorierten Nietzsche-Interpretation "Ich impfe Euch mit dem Wahnsinn" (Frankfurt am Main/Paris 1982) thematisiert.


Werner Ross macht vor derart radikalen Schritten psychologischer Erklärung Nietzsches und seiner Philosophie halt. Am Ende seines Buches, das kein an Nietzsche Interessierter wird ignorieren können, bekennt der Autor in sympathischer Bescheidenheit, sein Versuch bleibe gewiss unzulänglich "gegenüber der labyrinthischen Verzweigung" des Denkens Nietzsches und "gegenüber der beispiellosen Vertracktheit seiner Person". Nur Shakespeare, so gesteht Werner Ross, wäre wohl in der Lage gewesen, ein umfassendes, alle Antinomien der Person und ihres Denkens vereinigendes Porträt Friedrich Nietzsches zu schreiben. Aber Werner Ross hat immerhin mit seinem Buch etwas mehr Licht in das komplexe und vertrackte Phänomen Friedrich Nietzsche gebracht!

 

 

Rezension in der „Neuen Zeit“

 


 

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