Richard Wagners Amerika Vaget



Alles zum Thema: Wagner & Amerika


Hans Rudolf Vaget:

Richard Wagners Amerika. Eine Ausgrabung

Wagner in der Diskussion Bd. 24. Königshausen & Neumann, 2022, 187 Seiten


 

Über kaum einen anderen Komponisten ist so viel geschrieben worden wie über Richard Wagner und doch gibt es immer noch weiße Flecken in der Wagnerbiographik. Dazu gehört (neben dem offiziellen, allbekannten Sehnsuchtsort Paris) zweifellos Amerika „als heimlicher Sehnsuchtsort“, wie der Harvard-Gelehrte und Wagnerspezialist Hans Rudolf Vaget in seinem neusten Buch schreibt. Tatsächlich ist der „Gedanke, dass das reale und das ideale Amerika...ein wesentlicher Faktor auch seiner Künstler-Existenz ist,… in der deutschen Wagner-Literatur bisher kaum ernsthaft in Betracht gezogen worden.“ Zurecht, so moniert Vaget, hat man es mit einem „Irritierenden Vorkommnis in Wagners Biographie zu tun. Die Absicht, sein enormes Lebenswerk in den Vereinigten Staaten zu vollenden und zu krönen" habe "erstaunlicherweise noch keine angemessene Beachtung, geschweige denn Erklärung gefunden."


Freilich, wer sich in Wagners Biographie etwas auskennt, wer aber vor allem aber die Tagbücher Cosimas gründlich gelesen hat, dem ist dieser Aspekt nicht ganz fremd.

Der Amerika-Plan war eine der fixen Ideen Wagners. Schon 1854 hatte er von einem amerikanischen Interesse an Wagner- Konzerten erfahren, für die er im Jahr darauf auch Angebote erhielt. Noch einmal erreichten ihn 1859 Vorschläge für eine Amerika-Reise. Seither ließen ihn die Amerika-Illusionen nicht mehr los. Am 8. Juli 1879 notiert Cosima „Mit Pr. Schrön spricht er von seinem Gedanken, nach Amerika zu ziehen“. (Den Arzt Prof. Dr. Schrön hatte Wagner durch Nietzsche in Neapel kennengelernt und zum Freunde gewonnen.) Am 1. Februar 1880 habe Wagner, so Cosima, im Familienkreis geäußert, „er wolle nach Minnesota ziehen, Haus und Schule gründen und den Amerikanern den „Parsifal“ widmen; in Deutschland halte er es nicht mehr aus.“


Nicht zu Unrecht bemerkte Friedrich Nietzsche“, dass Wagner „nirgendwo weniger hingehört als nach Deutschland“, ja dass Wagner „unter Deutschen bloß ein Missverständnis ist“. Schon ein Blick auf seine Vita genügt, um das zu verstehen. Wie schon Michael von Soden in seinem Wagner-Reiseführer zurecht feststelklte:


„Der Komponist reiste kreuz und quer durch Europa, der Aktionsradius seines Lebens – eine in jeder Hinsicht expansive Existenz – reichte im Norden bis London, im Osten bis Moskau, im Süden bis Sizilien und im Westen bis zur Atlantikküste.“ Diesem Bewegungsdrang seiner Vita entspricht der innere Reichtum seines Werkes. Wagner war ein heimatloser Weltenbummler, getrieben von Lebens-Neugier, Produktionszwang, Politik, Eros und „Kunstmission“. Er war – von wenigen Ruhephasen abgesehen - zeitlebens ein Reisender, immer unterwegs, in Europa. Seine Biographie ist, objektiv betrachtet, die eines Europäers! „Mehr als die Hälfte seines Künstlerlebens verbrachte Wagner jenseits deutscher Grenzen, und die patriotischsten Passagen seines Werkes entstanden außer Landes“ (Michael von Soden).

 

Friedrich Nietzsche hielt vo allem die lebenslange Parispassion Wagners für essentiell: „Wagner ... lief von den Deutschen davon... Als Artist hat man keine Heimat in Europa außer in Paris: die Delikatesse in allen fünf Kunstsinnen, die Wagners Kunst voraussetzt, die Finger für nuances, die psychologische Morbidität, findet sich nur in Paris.“

 

Als der steckbrieflich verfolgte, ins schweizerische Exil geflohene Dresdner Revolutionär im letzten Drittel seines Lebens, endlich amnestiert, nach Deutschland zurückkehrte und sich in der bayerischen Provinz, in Bayreuth niederließ, ertrug er Deutschland und die Deutschen im Allgemeinen längst nicht mehr, weshalb er sich zeitweise ernsthafter denn je mit dem Gedanken der Auswanderung in die USA befasste.


Als der Exilant Wagner begnadigt vom sächsischen König, zum ersten Mal wieder deutsche Grenzen überschritt, bekannte er Otto Wesendonck: „Von Ergriffenheit beim Wiederbetreten des deutschen Bodens habe ich – leider! – auch nicht das Mindeste verspürt“. Nicht weniger deutlich war Wagner schon in einem Brief an Franz Liszt vom 13. September 1860: „Mit eigentlichen Grauen denke ich jetzt nur an Deutschland und meine für dort berechneten zukünftigen Unternehmungen. ... Auch muss ich Dir gestehen, dass mein Wiederbetreten des deutschen Bodens auf mich nicht den mindesten Eindruck gemacht hat ... Glaub' mir, wir haben kein Vaterland! Und wenn ich ‚deutsch’ bin, so trage ich sicher mein Deutschland in mir...“


Allen von vormärzhaft-jungdeutschen Einigungs- und Deutschland-Sehnsüchten geprägten Bekenntnissen zum Trotz: Richard Wagner war immer heimatlos geblieben. In einem Brief aus dem Jahre 1861 an seinen Zürcher Mäzen Otto Wesendonck bekannte er: „Ich habe einmal nirgends Wurzeln, und jedes Heimgefühl wird mir immer fremder!“


Aus Neapel teilte Wagner dem befreundeten amerikanischen Zahnarzt Dr. Jenkins am 8. Februar 1880 mit, dass er es nicht für unmöglich halte, sich doch noch zu entschließen, mit seiner ganzen Familie und seinem letzten Werk für immer nach Amerika auszuwandern. Er verlange dafür eine Million Dollar, deren eine Hälfte für die Niederlassung in einem klimatisch vorteilhaft gelegenen Staate der Union, deren andere Hälfte als Kapital-Vermögen in einer Staatsbank zu 5 Prozent anlegbar zu verwenden sein würde. Hiermit hätte ihn Amerika Europa für alle Zeiten abgekauft.


Als Dr. Jenkins am 1. April auf der Reise von Dresden nach Konstantinopel in Neapel Station machte, fand er Wagner so voller Illusionen hinsichtlich der Bedingungen in Amerika, dass die Argumente gegen diesen Plan keine Kraft hatten. Jenkins bemühte sich nach Kräften und mit Hilfe von Freunden, Wagner das Amerika-Projekt auszureden. Es war nicht leicht, denn Wagner hatte sich in die Amerika-Idee verbissen. Nur sein Alter, sein Herzleiden und seine Nächsten brachten ihn schließlich davon ab.


Hans Rudolf Vaget kennt diesenZusammenhänge bestens und weiß sie einzuordnen historisch wie biographisch. Er misstraut aus gutem Grund dem Ausspruch, der Wagner in einem Brief an Eduard Devrient am 12.5.1859 entfuhr, er sei „vielleicht der deutscheste Künstler, den es je gab“, noch mehr zweifelt er am deutschen Wagnerismus, an der deutschen Vereinnahmung Wagners, der er den hierzulande wenig Bekannten amerikanischen Wagnerismus entgegenstellt, der ja in zahlreichen Großstädten der USA schon zu Wagnetrs Lebzeiten existierte, in Gesellschaften, im Konzertwesen und in der Literatur. Vor allem macht Vaget darauf aufmerksam, dass ein wichtiges Motiv für Wagners Amerikasehnsucht das „Scheitern der Revolution“ gewesen sei, „das Hunderttausende veranlasste, in die ‚Neue Welt‘ der Vereinigten Staaten auszuwandern.“ Diesen „weithin unbekannten Wagner“ gelte es „kennenzulernen: Wagner, den Forty-Eighter“.  Seine Kronzeugen, deren Texte Vaget ausgegraben hat sind der Dirigent Anton Seidl, enger Mitarbeiter in Wagners „Nibelungen-Kanzlei“ in Bayreuth, der in New York reüssierte, sowie der Zahnarzt Dr. Nevill Sill Jenkins, den Wagner aus Dresdner Tagen her kannte. 

 

Zuu kurz kommt bei Vaget, dass auch Zürich „eine Wagnerstadt von globaler Strahlkraft par excellence“ war, wie die Autoren des opulenten Buches „Prachtgemäuer. Wagner-Orte in Zürich, Luzern, Tribschen und Venedig“ betonen. Bedauerlicherweise habe die Stadt dieser Tatsache „bis heute nie dauerhaft sichtbare Rechnung getragen“, so die Autoren (Christian Bürle, Martin Kiesel, Joachim Mildner). „Gemessen an Aufenthaltsdauer, Vorhandensein der authentischen Gebäude und Werkschaffung ist Zürich sogar die Wagnerstadt neben Bayreuth.“ Oberhalb des Sees, mit Blick auf die Berge, wollte Wagner sogar sein Festspielhaus errichten. Die damaligen Zürcher konnten sich dazu jedoch nicht entschließen. Noch am 200sten Gedenktag seines Geburtstages 2013 schrieb ein Zürcher Journalist: „Wenn dem Komponisten etwas mehr Glück beschieden gewesen wäre, so läge Bayreuth heute am Zürichsee."  Keine schlechte Vorstellung! Das Wagnerpublikum würde vom urbanen wie landschaftlichen Mehrwert ohne Frage profitieren.


Ob das „Mehr-als-Deutsche" an Wagner und seinem Werk als ‚amerikanisch‘ gedeutet werden darf, wie Vaget meint, sei dahingestellt. Es ist wohl eine provokante Übertreibung. Viel eher dürfte Wagners über Deutschland hinaus gehende Prägung europäisch sein. Aber Vaget hat immerhin den Blick geöffnet für ein vernachläsigtes  Thema und damit kenntnisreich und informativ eine Lücke in der Wagnerliteratur geschlossen.



 

 Rezension auch in Orpheus Juli/August, ET 30.6.2022