Offenbachs Oyoyaye Komische Oper

Foto: Barbara Braun / Komische Oper Berlin


Grandiose Offenbach-Trouvaillen, vom Theater falsch etikettiert, vom Publikum ignoriert

 

 

An der Komischen Oper Berlin wurden am 18. 12. 2022 zwei Offenbacheinakter ausgegraben: Eine der ersten Offenbachiaden ist die »antropophagie musicale“ (musikalische Menschenfresserei) in einem Akt,“ „Oyayaye ou la Reine des Iles.“ (Oyayae oder die Königin der Inseln).  Das frühe Stück kam nicht an Offenbachs eigenem Theater zur Uraufführung, sondern am Haus der Konkurrenz, den Folies-Nouvelles des Komponisten Hervé. Gekoppelt wurde es in Berlin mit „La Chanson de Fortunio“, auf ein Libretto der Librettisten Hector Crémieux und Ludovic Halevy, das am 5. Januar 1861 an Offenbachs eigenem Theâtre des Bouffes-Parisiens uraufgeführt wurde.

 

Die Klammer der beiden auseinanderliegenden Stücke setzt der Schauspieler Burghart Klaußner, der als alter Fortunio höchstpersönlich und als Conférencier (vom Lehnstuhl/Schreibtisch aus) durch den Abend führt. Aber auch thematisch sind die beiden Stücke verklammert, denn in beiden Stücken geht es um die Macht der Musik und ihrer Macht über die Menschen. Es geht, wie der Conférencier der Aufführung in der Komische Oper sagt, um „Menschen- und Herzensfresserei.“  Und es ist eine große Gaudi.

 

Die „antropophagie musicale“ (musikalische Menschenfresserei) in einem Akt „Oyayaye ou la Reine des Iles“ segelt in Gewässern der Zweideutigkeit. Schon der Name der Titelfigur- die bei der Uraufführung als Travestie-Rolle von Hervé selbst gegeben wurde (in der Komischen Oper brilliert Hagen Matzeit in dieser Partie) ist ein Paradebeispiel des Doppeldeutigen. Der Titel, eine Kombination aus „0h la la“ und „aie“ (Autsch), ist vieldeutig und meint Anzüglich­keiten. Was Offenbach und sein Librettist Jules Moinaux (der auch den Text zu „Die beiden Blinden“ verfasste, einem der Eröffnungs­stücke der Bouffes-Parisiens) mit dieser vollkommen durch­geknallten, surrealen und auf den ersten Blick un­sinnigen Farce im Sinn hatten: „Es ist die zeitlose Parabel des Künstlers, der vor seinem Publikum zu bestehen hat, der, wenn er nicht zu amüsieren versteht, „gefressen“, d. h. erledigt wird. Die exzentrische „Königin der Inseln“ und ihr antropophages Weiber-Gefolge sind eine Persiflage auf das verwöhnte, amü­sierhungrige Publikum, das, nicht immer auf der Höhe des ihm Dar­gebotenen, sich sogar von der vertonten Rechnung einer Waschfrau begeistern lasst. Hin­reißend komisch in Spiel, Ausdruck und wandlungsfähiger Stimmvirtuosität sowohl des Koloratursoprans wie des männlichen Brustregisters ist der einzigartige Countertenor und Bariton Hagen Matzeit, der stets wortverständlich ist, eine offenbacheske Fluppe ziehen kann und ein unwiderstehliches Bühnen­tier, um nicht zu sagen eine Rampensau ist, auch als Fortunios Köchin. Bei seinen Auftritten bleibt kein Auge trocken.  In der Rolle des Raclé-à-mort“, zu Deutsch etwa Schrubb-Dich-wund, ist unschwer das Alter Ego des Komponisten zu erkennen, der im Pariser Théâtre de l’Ambigu-Comique, in dessen Orchester Offenbach tatsachlich als Cellist tätig war, sein Solo verpatzt, an die frische Luft gesetzt wird.  

Der junge Ferdinand Keller in den Rollen de Schrubb-Dich -wund wie des kleinen Advokaten Paul ist ein Musterbeispiel eines Tenore di grazia leggero, eines begnadeten Offenbachtenors, der immer wortverständlich, stimmlich äußerst beweglich, sängerisch natürlich in Diktion wie Stimmführung ist, komisch, mit Tanzbegabung, Sexappeal und Intelligenz ausgestattet. Ein Glücksfall. Was man von den weiblichen Begleiterinnen der Menschenfresser­königin nicht sagen kann. Sie singen hübsch opernhaft, aber man versteht kaum ein Wort von Ihnen. Das was bei Offenbach zwischen den Noten steht, können sie nicht vermitteln. Dafür spielen sie immerhin wie ein operettenhaftes Vor­stadt­ballett, zum Niederknien komisch. Ihr parodistisches Gesangsensemble mit Mirlitons (kinderspielzeugartige Ansingtrommeln) ist eine der unwidersteh­lichen Glanznummern des Abends. Nur ein Genie wie Offenbach konnte solch parodistische Musik komponieren.

 

In „Oyayaye“ begegnet Einem das ganze Arsenal der für die Offenbachiade charakte­ristischen humoristischen Mittel von der Travestie, über die Parodie, der Verballhornung bis hin zu den verschiedensten Formen der Verfremdung und des Nichtzusammenpassens (europäische Tänze auf einer Südseeinsel?). Die Dialoge strotzen nur so von Wortspielen, oft anzüglicher Natur, die sich allerdings kaum übersetzen lassen.  

 

Da das originale Aufführungsmaterial verschollen ist - zu Lebzeiten Offen­bachs wurde nicht einmal ein Klavierauszug gedruckt - musste das Werk mit Hilfe des Zensurlibrettos und den erhaltenen Rollenbüchern rekonstruiert werden. In dieser Rekonstruktion des Offenbach-Forschers Jean-Christophe Keck wurde „Oyayaye“ zum Auftakt der Feiern zu Offenbachs 200. Geburtstag im Januar 2019 in Köln erstmals wiederaufgeführt.“ (Frank Harders-Wuthenow im Programmheft)

 

Jetzt ist dieser erste Höhepunkt von Offenbachs absurdem Theater zum ersten Mal in Berlin zu erleben. Als Vorspiel dient die Ouvertüre zu Offenbachs 1857 an den Bouffes uraufgeführtem Einakter „Vent du soir, ou L´horrible festin“ (Häuptling Abendwind), der quasi eine Art antropophage Fortsetzungs­geschichte zu „Oyayaye“ darstellt.

 

In „Fortunios Lied“ zeigt sich der vielseitige Offenbach von einer ganz anderen Seite. Ist er als Komponist in „Oyayaye“ der Meister der Parodie und des entfesselten höheren Blödsinns, so bringt er mit „Fortunios Lied“ ein reifes, hintersinniges Werk auf die Bühne, das bereits die musikalischen Finessen späterer Werke vorwegnimmt. Im Zentrum steht ein Lied, das Offenbach bereits 1850 für Alfred de Mussets Schauspiel „Le Chandelier“ komponiert hatte, das aber nie zur Aufführung kam.

 

Crémieux' und Halévys Geschichte des gleichnamigen Bühnenwerkes, das in der Komischen Oper zur Aufführung kommt, führt Mussets Schauspiel direkt fort: Der Notarschreiber Valentin (Hosenroll, Susann Zarrabi schön aber unverständlich gesungen) offenbart der von ihm angebeteten Gattin seines Chefs, Marie (Alma Sadé singt sie allzu opernhaft) mithilfe eines magischen Liedes zwar, dass er sie liebt, aber da das Lied eben davon handelt, dass der Liebende den Namen der Geliebten nicht auszusprechen vermag, begreift sie nicht, dass sie die Angebetete ist. Das Lied zündet nicht zwischen ihm und ihr, weil es keine Brücke bauen kann zwischen ihren Herzen. Das gelingt aber wohl den anderen Advokatengehilfen, die bei ihren Angebeteten mit ihren Emotionen nicht hinterm Zaun halten.

 

„La Chanson de Fortunio“ besticht durch die melancholische, psychologisch feinsinnige und hintergründige Art und Weise, mit der Offenbach und seine Librettisten das alte, der Comedia dell’arte entlehnte Thema des auf eine jüngere Frau eifersüchtigen älteren Mannes variieren.

 

Musikalisch hat der junge französische Dirigent Adrien Perruchon, er ist seit der Saison 2021/22 Musikdirektor des Orchestre Lamoureux, alle Fäden in der Hand. Und er hat ein Händchen für Offenbach, für die ständigen Richtungs­wechsel seiner Musik, die wechselnden Rhythmen und Tempi. Fabelhaft wie er mit Augenzwinkern und Sensibilität das Feuerwerk Offenbachs zündet. Man kann kaum ruhig sitzen bei derart tänzerisch bewegter, mitreißender Musik. Ein Glücksfall für Jacques Offenbach, so ein junger Dirigent mit ausgeprägter Affinität für diese jugendliche Musik des beispiellosen Maitre de plaisir des Zweiten Kaiserreichs, des erfolgreichsten Musikdramatikers seiner Zeit in einem Frankreich, das nach dem Deutsch-Französischen Krieg ein anderes war. Und sein Erfolg ebbte ab. Man spielt übrigens in originaler, nicht verkleinerter oder bearbeiteter Orches­trierung, einschließlich so exotischer Instrumente wie Mirlitons (Membranophone) und der Vuvuzela (südafrikanisches Blas­instrument, das so ähnlich wie das Tröten eines Elefanten klingt und bei Fußballspielen zum Einsatz kommt), wodurch die musikalische Raffinesse der Musik hörbar wird. Das Orchester der Komischen Oper spielt so virtuos, temperamentvoll, leicht und elegant wie selten.

 

„Offenbachs Genie als Musikdramatiker zeigt sich immer wieder in genau dieser Fähigkeit, Musik selbst zum Thema und zur treibenden Kraft einer Handlung zu machen, wobei ihre ‚Aussage‘ durch Ambivalenz ihre Eindeutigkeit verliert. Fortunios Lied erlebte am Abend der Uraufführung einen derartigen Erfolg, dass das gesamte Stück wiederholt werden musste. Es blieb bis ins 20. Jahrhundert einer der meistgespielten Einakter Offenbachs, das Lied selbst erfreute sich auch unabhängig von der Operette enormer Popularität. Als Offenbachs musika­lischer ‚Talisman‘ gehörte es - auf der Orgel gespielt — zu seinem letzten mu­sikalischen Geleit in der Totenmesse am 7. Oktober 1880 in der Pfarrkirche La Madeleine in Paris.“ (Frank Harders-Wuthenow)

 

Es waren die Einakter, die Jacques Offen­bach zum großen Durchbruch ver­halfen: Schwungvoll und auf den Punkt, mit pfeffrigem Humor gewürzt und getragen von einigen seiner besten Melodien! Die Aufführung der Komischen Oper stellt es unter Beweis. Die schlichte, aber sinnige, schmissige, komisch-beglückende Inszenierung von Max Hopp stellt es unter Beweis. Ein Kletter­baum, ein Schreibtisch mit Sessel, realistische Kostüme aus dem Fundus, ein paar Palmwedel reichen für das tingeltangelhafte Spiel mit Ironie, Revueanleihen und Travestie. 

 

Dass die Komische Oper die Veranstaltung als „konzertante Weihnachts­ope­rette“ bewirbt, ist absolut unverständlich. Weder ist die Veranstaltung eine Operette (auch wenn Offenbach eines der Stücke ein e solche nennt. Es handelt sich aber um eine typische Offenbachiade!), noch ist irgendetwas weihnachtlich an der Aufführung. Ebenso unverständlich – aber bezeichnend – ist es, dass das Publikum nicht in Strömen zu dieser vorzüglichen Aufführung von (nie - oder sehr selten - zu sehenden Offenbach-Trouvaillen geströmt ist. Das Haus war nur halbvoll. Eine Schande für das Berliner Publikum. Es sollte sich schämen. Schade für Offenbach. Das hat er nicht verdient



Rezension auch in "Orpheus"