Die großen Sänger / Jürgen Kesting

Opus summum eines Melomanen

Jürgen Kesting: Die großen Sänger


4 Bände im Schuber

ISBN :  978-3-455-50070-7

Erschienen am  17. Oktober 2008 in Hamburg

Hoffmann und Campe Verlag



1986 brachte der Journalist und Musikkritiker Jürgen Kesting eine dreibändige  Geschichte der Großen Sänger heraus. Sieben Jahre später kam sie als einbändiges Kompendium noch einmal auf den Markt.  Spätestens ab dem Zeitpunkt gilt Jürgen Kesting für Viele als der „Stimmen-Papst“ schlechthin. Manche Sänger hingegen belächeln ihn als „Hals-Nasen-Ohren-Archäologe“. Zweifellos ist Jürgen Kesting einer der profundesten Kenner der Sängerstimme und der führende deutsche "Gesangskritiker". Seine Rundfunksendungen und Zeitungs-artikel sind gefragt. Seine Urteile werden geschätzt, aber auch gefürchtet. Nun hat Jürgen Kesting sein längst zum Standardwerk avan-ciertes Sängerbuch erweitert und in vier Bänden neu herausgebracht. 



Mit der „Diva aller Diven“, wie er sie nennt, mit Adelina Patti,  der Nachtigall aus Madrid, die noch von Giuseppe Verdi bewundert wurde, beginnt das waghalsige Mammutwerk Jürgen Kestings über die Geschichte der Sänger und der Gesangskunst. Es ist konkurrenzlos im deutschen Sprachraum. Lange wartete man auf sein Wiedererscheinen. Jetzt hat es Jürgen Kesting - sogar um ein Drittel erweitert - noch einmal herausgebracht. 2500 Seiten umfasst es, vier dicke Bände, fadengehefet, reich illustriert und edel gedruckt. Sechsunddreißig Kapitel gibt es. Die meisten werden mit einem Essay eingeleitet, in dem es um Begriff und Geschichte des Belcanto und um die ver-schiedenen französischen, italienischen und deutschen Gesangsschulen geht, aber auch um Praxis und Geschäft des Opernlebens, die Vermarktung von Stimmen, deren Voraussetzungen und den Wandel des Geschmacks. Jürgen Kesting hat allerdings kein Sängerlexikon, keine Enzyklopädie vorgelegt. Seine Sängergeschichte will er - wie er mir im Gespräch versicherte - eher verstanden wissen als ...


" … eine ästhetische Geschichte des Singens, eine Methodik des Singens, was die Technik angeht und eine Sozialgeschichte des Singens, auch daran abzulesen, das es viele Glieder in der Darstellungskette gibt, die sich mit Karajan, mit Mahler, mit Toscanini mit Rudolf Bing, mit der Entwicklung des Opernbetriebs beschäftigen."


„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“, zitiert Jürgen Kesting Thomas Mann. Das Zitat ist fast so etwas wie ein Motto, unter dem die vier Bände gelesen werden können. Sie dokumentieren, illustrieren und veranschaulichen verloren gegangene Traditionen, aber auch deren Wiederentdeckung in unserer Zeit. Gerade was die Kunst des Belcanto Rossinis oder Donizettis angeht. Man denke nur an Sänger wie Marilyn Horne, Kesting nennt sie die „größte Sängerin der Welt", oder an Juan Diego Florez, einen „Belcanto-Prinzen“. Auch wenn es für Kesting natürlich favorisierte und weniger favorisierte Sänger gibt, Christa Ludwig etwa nennt er „die Herrlichste von allen“, Franco Corelli den „Burt Lancester der Opernbühne“, Anna Netrebko tut er dagegegen als „Cindy Crawford der Oper“ ab, so schreibt er doch nicht billig über „goldene Stimmen“, Idole oder abschreckende Beispiele falschen Singens. Das natürlich zuweilen auch. Und bei ruinierten Stimmen nimmt Kesting kein Blatt vor den Mund.


Sängerischer Stil ist für Kesting immer die Symbiose von Technik und Musik. Seine Hauptthese: „Bei wahrhaft großen Sängern vollzieht sich die Darstellung primär im Gesang.“ Deshalb stützt er sich denn auch lieber auf distanzierende, objektivierende (wie allerdings auch manipulierte) Schallplatten als auf reale Bühnenerlebnisse. Was ihm manche Sänger verübeln.


"Ein Darstellen im Singen meine ich im Sinne von Wagner, der gesagt hat: Ich muß so singen, dass ich den Mimus der Figur im Klang, in der Klanggeste erkennen kann. Das ist eigentlich das wahre, große Singen. Und alle Sänger, die sich dem Hörer eingeprägt haben und einprägen, Enrico Caruso, Fjodor Schaljapin, Tita Ruffo, Maria Callas, Rosa Ponselle, Jussi Björling, sie alle zeichnen sich dadurch aus: Der Klang ist das Gesicht dieser Stimmen. "


Maria Callas, über die Jürgen Kesting 1990 ein viel beachtetes Buch schrieb und später eine sehr erfolgreiche ARD-Radioserie produ-zierte, ist ein besonders umfangreiches Kapitel gewidmet: "Die Ära der Callas." Fast hundert Seiten umfasst es. 


"Der Gedanke, der dahinter steht ist der: Es hat drei  richtungsweisende Sänger gegeben, was die italienische Oper angeht, nämlich Caruso auf der einen Seite, Schaljapin als der Sängerdarsteller, der diesem modernen Typus, überhaupt den Sängerdarsteller,  einen Christoff, einen Gobbi möglich gemacht hat und die Callas, die eine verloren gegangene Technik zurück gewonnen hat durch die Renaissance der romantischen Belcanto-Oper. "


Ohne die Callas wären Sänger wie Renata Scotto, Raina Kabaivanska, Leyla Gencer und Montserrat Caballé, um nur einige zu nennen, kaum denkbar. Jürgen Kestings großes Verdienst ist es, dass er nicht nur sängerische Traditionslinien, sondern auch stilistische Aufbrüche und Rückbesinnungen verdeutlicht, Initiativen und ihre Folgen, und zwar in England, Rußland, Amerika, Italien und Deutschland. Was er über Richard Wagners Anschauungen vom Singen, über Bayreuther Stil, aber auch den Niedergang heutiger Bayreuther Gesangskultur, über Verdis Credo des Singens wie über alle andere wegweisende Gesangstheorien und gesangsgeschichtliche Epochen zusammenge-tragen hat, ist faszinierend und in dieser Ausführlichkeit beispiellos. Allein die Fülle seiner Zitate ist überwältigend. Kesting hat unendlich viel gelesen. Rares Photomaterial und so entlegene wie erhellende Kostproben aus biographischer und autobiographischer Sängerliteratur machen diese vier Bände zu einem unschätzbaren Wissens-Kompendium. 


Auch wenn Jürgen Kesting unnennbar viele Sänger erwähnt, beschrieben und differenziert dargestellt wie bewertet hat: Natürlich fallen viele durch seinen Rost. Unter ihnen zum Beispiel auch die große britische Sopranistin Felicity Lott. Sie wird bei Kesting mit nicht einmal einer Seit abgetan, sie wird gerade mal erwähnt als bildschöne „Charmeuse“, vor allem des Operetten- und Offenbach-Gesangs. Dass sie eine der wortverständlichsten, idiomatischsten und beseeltesten Richard-Straus-Sängerinnen unserer Zeit ist, davon liest man kein Wort bei Kesting. Da ist man doch einigermaßen erstaunt.


"Ich hab schon zu meinem Verleger gesagt: Wenn das Buch einigermaßen gut läuft, werde ich versuchen, ein Jahr oder anderthalb Jahre später „Missing Names“ oder Ergänzungen zu schreiben."


Es ist nur zu hoffen, dass alles gut läuft und jene Sänger, die in diesen vier dicken, schweren Bänden zu kurz gekommen sind,  nachholtend integriert werden. Auch so fulminante singende Persönlichkeiten der Operettenkultur wie Fritzy Massary oder Sari Barabas fehlen bzw. kommen zu kurz. Andererseits hat Kesting in der Neuausgabe seines Sängerbuches auch Sänger erstmals aufgenommen oder positiver bewertete als in den früheren Ausgaben, etwa Edita Gruberova, die in seiner einbändigen Ausgabe  nicht einmal erwähnt wurde. Ihr bestätigt Kesting immerhin, dass sie „ trotz aller Einwände … zu den außerordentlichen vokalen Phänomenen der letzten vier Jahrzehnte“ gehört.


Daß Kesting die vokalen Phänomene, die er ähnlich wie Ernst Jünger als aufgespießte Insekten unter der akustischen Lupe zu betrachten scheint und in beispielloser Präzision, nach  allen gesangstechnischen, stimmphysiologischen wie ästhetisch-stilistischen  Parametern  beschreibt, mag den einen oder anderen Leser ebenso befremden wie die Fülle gesangstechnischer Begriffe, mit denen Kesting souverän jongliert.


Doch Verglichen mit den vielen sehr pauschal und kenntnislos über Sänger und das Singen schreibenden Autoren sind Jürgen Kestings Ausführungen – wie auch immer man sie bewerten mag – von wohltuender Sachlichkeit. Und der Laie wie der Fachmann, der Opern-kenner wie der Sänger kann bei ihm noch Einiges lernen.  Kestings Respekt gebietende Geschichte des Singens wie der Sänger  endet mit einer "Coda" über die Wiederentdeckung des Countertenors bzw. den „Reiz des Zweideutigen“. Da kommt seine Methode der Beurteilung an ihre Grenzen, denn bei den Countertenören versagt sich Jürgen Kesting merkwürdigerweise  jede detaillierte gesangstechnische Bewer-tung und macht eigentlich gegen seinen Willen, so scheint´s, Zugeständnisse an den Zeitgeschmack und an die Wiederentdeckung der Barockoper und der Kastratenersatzstimmen:


"Für mich ist die Frauenstimme allemal die bessere Wahl in den allermeisten Werken. Tatsache ist aber, es wird akzeptiert, also diese Ambiguität und der Reiz des Zweideutigen. Ich beschreibe da lediglich ein Prozedere des Opernbetrieb, eine Stimm-Mode und ein Stimmphänomen" 




Beiträge in SWR, DW, "Das Orchester" (Schott)