Kein Vorwurf gegen Verdi ist so alt wie der, seine Musik sei Leierkastenmusik. Richard Wagner, der allgemein als Antipode Verdis gilt, hat es noch vornehm ausgedrückt, als er schrieb: Das Orchester sei bei Verdi "nichts anderes als eine monströse Gitarre zum Akkompagnement der Arie". Der dem Nationalsozia-lismus nahestehende Komponist Hans Pfitzner läßt Wagner in seiner anti-semitischen Parodie "Die Meistersinger oder Das Judenthum in der Musik" im Jahre 1940 sogar persönlich auftreten und Verdi ins Gesicht sagen: "Elender Leierkasten". Nachzulesen in der Einleitung des neuen Verdi-Handbuchs von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert. Darüber, dass dieses Etikett durchaus falsch ist, obgleich Verdi, wie aber auch Wagner oder Ponchielli den Leierkästen Europas ihre Popularität verdanken, wird man in diesem imposanten Verdi-Buch aufgeklärt. Wobei auch nicht verschwiegen wird, dass Verdi bei aller Aufgeschlossenheit und Neugier Wagners Musik bescheinigt: "Zukunftsmusiker sind der Gattung symphonischer Orchestermusik zuzurechnen; sie verwechseln diesen Stil mit jenem, den es für das Theater braucht, wo es, wenn die Direktion Geld machen will, nötig ist, sich dem ganzen Publikum verständlich zu machen, den Uhrmacher, den Kohlenhändler und den Verkäufer von Siegellack eingeschlossen."
Anselm Gerhard und Uwe Schweikert haben in Form eines praktischen Nach-schlagewerks - das durch keinerlei Fußnotenapparat den Lesefluss erschwert - eine umfassende und aktuelle Einführung in Leben, Zeit und Werk Verdis vor-gelegt. In sich abgeschlossene Kapitel in-formieren über die zeit-, sozial- und theatergeschichtlichen Voraussetzungen, unter denen die Oper im 19. Jahrhundert zur populärsten Kunstform in Italien wurde. Der Leser erfährt alles Wichtige zur Entstehung eines Librettos und seiner Vertonung, über Vers, Arienform, Har-monik und Stimmtypologie. Verdis Wirken im italienischen 19. Jahrhundert, sein Werk zwischen Konvention und Innovation, aber auch seine Rezeption bei den Zeitgenossen bis hin zur modernen Verdi-Renaissance im Regietheater werden sehr aus¬führlich dargestellt und konkret erläutert. Es geht aber auch um den Mythos Verdi, den private wie den politischen, und um die Trivialisierung und Popularisierung Verdis bis hin in neuste Formen audio-visueller Kultur und Kommunikation.
Zum ersten Mal werden in diesem Verdi-Handbuch alle nicht für die Bühne bestimmten Kompositionen Verdis - Kammermusik, Kirchenmusik, Lieder und vieles mehr - vollständiger aufgelistet als in sämtlichen bisher publizierten Werklisten oder Katalogen. Im Zentrum dieses weit ausholenden wie zuverlässigen Handbuchs stehen natürlich die 26 Opern Verdis. Sie werden in ausführlichen Einzelartikeln behandelt. Von namhaften Autoren, die das von Klischees verstellte Bild des neben Mozart, Wagner und Puccini meistge-spielten Opernkomponisten bis heute unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstands ins rechte Licht rücken. Großen Raum nimmt aber auch die Darstellung der politischen, ökonomischen und kulturellen Situation Italiens im 19. Jahrhundert ein, um die Rahmenbedingungen der Opernproduktion Verdis verständlich zu machen.
Die große Stärke des 750 Seiten dicken Handbuchs liegt darin, dass durch die Beiträge von 25 Autoren ein vielschichtiges und facettenreiches Bild von Verdi und seiner Zeit entsteht. Eine detaillierte Zeittafel, ein umfangreiches Glossar italienischer Opernbegriffe - von Adagio bis Tutti - , biographische Notizen zu den wichtigen Personen aus Verdis Umkreis, bibliographische Hinweise und ein Register machen den großen Nutzwert dieses imposanten Handbuchs aus. Es zieht die Summe heutigen Wissens über Verdi, fundiert und verständlich. Und ist der schlagende Beweis dafür, dass Wissenschaft nicht akademisch trocken vermittelt werden muss. Ohne Frage die umfangreichste deutsch-sprachige Veröffentichung zum Werk dieses herausragenden Opern-komponisten. Für alle, die sich mit Verdi ernsthaft befassen: Schüler, Studen-ten, Musiker und Operninteressierte, professionelle wie unprofes-sionelle, ein unbedingtes Muss und ein Lesevergnügen, dieses Buch!
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