Musik-Theater & mehr
Photo: Staatstheater Braunschweig/Karl-Bernd Karwasz
Deutsche EA einer vergessenen großen Oper 2011
Mascagnis "Isabeau" am Staatstheater Braunschweig
Nicht immer sind Ausgrabungen und Wiederentdeckungen jenseits des immergleichen Reper-toires Theatererfolge. Doch Pietro Mascagnis 1911 in Buenos Aires uraufgeführte dreiaktige (wenngleich kurze) Oper „Isabeau“, die das Staatstheater Braunschweig als Deutsche Erstauf-führung herausbrachte, ist ein Glücksfall, der einen anderen als den Mascagni der „Cavalleria-Rusticana“ offenbart. Schon der Plot, zu dem kein Geringerer als Luigi Illica das Libretto schrieb, läßt eher an Richard Wagner denken als an italienischen Opernverismo.
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In einem fiktiven Mittelalter des 12. Jahrhunderts soll die nonnenfromme Prinzessin Isabeau den bankrotten Staat ihres Vaters retten, mag sich aber beim „Liebesturnier“ der Brautwerber für keinen entscheiden. Deshalb will König Raimondo sie exemplarische bestrafen und ordnet an, dass die keusche Prinzessin mit dem Heiligennimbus nackt auf ihrem Schimmel durch die Stadt reiten soll. Aber das Volk setzt beim König ein Edikt durch, dass bei angedrohter Todes-strafe keiner hinsehen darf. Der junge Waldbursche Folko ignoriert das Blickverbot und huldigt ihrer Schönheit. Isabeau erkennt in diesem „tumben Toren“ den ihr Ebenbürtigen und das We-sen der Liebe. Sie ist bereit, mit ihm, der vom Mob gelyncht und im Kerker geblendet, ja massakriert wird, zu sterben. Was Anlass ist zu einem gemeinsamen Liebestod in beinahe wagnerscher Ekstase.
Die zugrunde liegende „Godiva“-Ballade von Alfred Tennysons wäre ein Stoff für Wagner ge-wesen. Mascagni zitiert denn auch nicht ohne Grund den „Tristan-Akkord“. Folko ist ein Bru-der Parsifals, Isabeau eine Schwester der „Tannhäuser“-Elisabeth. Doch Mascagni wagt sich harmonisch weiter als Wagner in die Moderne vor. Es gibt Anklänge an „Salome“ und „Elek-tra“. Die Instrumentation ist außerordentlich farbig und facettenreich. Dem großen Orchester-apparat (von Georg Menskes am Pult souverän beherrscht) mit Celesta, Glocken, Holzblöcken zur Nachahmung von Pferdegetrappel) und sechs Bühnentrompeten entspricht ein anspruchs-voller Chorpart, der noch exponierter als in „Cavalleria Rusticana“ bis hin zum finalen, disso-nanten Schreckensschrei, zur handelnden Instanz wird. Das großartige nachwagnerische „Mu-sikdrama“ wird von Konstanze Lauterbach leider ziemlich holzhammerhaft als moderne Para-bel über die Falschheit von Königen und die Brutalität des Pöbels desillusioniert und szenisch verhässlich (hat man jemals eine nicht hässliche Inszenierung von ihr gesehen?), zwischen Kohlrabi-Aposteln, Saurierurwald, schiefen Architekturfragmenten, Blümchentapeten und Madonnenstatuen. Statt nacktem Ritt zu Pferde (den man im Orchester hört) das Hopsen der nur an Füßen nackten Jungfrau von Stein zu Stein. Die szenische Enttäu-schung wird allerdings ausgeglichen und überboten durch die beachtliche Klang- und Spiel-kultur des Orchesters und den fabelhaften Chor des Staatstheaters Braunschweig. Die solistischen Hauptpartien sind mit Arthur Shen (Folko), Mária Porubčinová (Isabeau) und Selçuk Hakan Tirasoğlu (König) eindrucksvoll besetzt worden. Eine musikalisch so überwältigende wie anrührende Wiederentdeckung einer zu unrecht vergessenen Oper.
Beitrag in "Das Orchester" (Schott)