Chéreaus Tristan Mailand, Tiezzis Parsifal Neapel

Dieter David Scholz

 

 

Photos: Marco Brescia/Teatro alla Scala

Wagner in Italien 2008

Tristan in Mailand (Partice Chéreau)

Parsifal in Neapel (Federico Tiezzi)

 

 

Noch nie wurde in Deutschland soviel Wagner gespielt wie heute. Aber seinem Werk wird mehr und mehr misstraut, es wird weitgehend dem eigenmächtigen Regietheater überlassen, in dem sich oftmals Regisseuren (die sich mit Wagner gar nicht so gut auskennen) wichtiger nehmen als Wagner. Meist sieht man Wagner mit Kommentar des Regisseurs, wenn nicht gar nur einen Kommentar zu Wagner, ohne Wagner. Als ob der Zuschauer nicht selbst denken könnte. In Deutschland ist jüngst sogar der Wagnersche "Ring des Nibelungen" kurzerhand zum Musical verarbeitet worden.

 

In Italien belässt man Wagner noch bei sich selbst. Man vertraut ihm einfach. Fern allen Regietheaters. Nicht nur, dass die meisten italienischen Sänger Wagner besser singen, als die deutschen Sänger, was nicht zuletzt auch mit den italienischen Übersetzungen zu tun hat. Und natürlich mit dem Belcanto. Schon Wagner schätzte Belcantosänger in seinen Musikdramen mehr als Schreikünstler, wie sie heute die Wagnerbühne beherrschen. Merkwürdig eigentlich, dass kaum ein Dirigent das weiß. Dabei hat sich Wagner immer wieder sehr eindeutig dazu geäußert. Auch wenn heute in Italien Wagner nicht mehr auf Italienisch gesungen wird, und auch kaum mehr von Belcantosängern, so haben doch zwei jüngste Aufführungen in Mailand und Neapel einmal wieder demonstriert, dass Wagner in Italien dennoch anders ist als hierzulande. Und keineswegs schlechter.

 

Mit "Tristan und Isolde" wurde an der Mailänder Scala die erste Spielzeit des neuen Intendanten Stéphane Lissner eröffnet. Er hat gleich zu Beginn mit einen Paukenschlag ausgeholt. Er hat keinen Geringeren als Patrice Chéreau, der vor 30 Jahren den legendären Bayreuther "Jahrhundertring" herausbrachte, als Regisseur des "Tristan" gewinnen können. Eine Sensation, daß das gelang. Es war ein langjähriger Wunsch von Chéreau, den "Tristan" zu inszenieren.

 

Nun hat er ihn inszeniert, wie man es hier bei uns in Deutschland kaum wagen würde, ziemlich werktreu und realistisch bis ins kleinste Detail. Brangäne, Kurwenal und die Randfigur Melot interessierten Chéreau wenig. Alle drei sind Dienerfiguren, mehr nicht. Sie werden - wie im Fall Melots, nur zwischen den Protagonisten hin- und hergeschubst, gekniffen, geschlagen und "benutzt". Aber Chéreau bringt viel zusätzliches Personal zum Einsatz: Schiffsleute, Hofgefolge, Burgpersonal.- Was Chéreau vor allem interessierte, sind die beiden einander verfallenen Liebenden - Tristan und Isolde - und - mit gehörigem Abstand - der alte König Marke als der gehörnte Dritte, wobei es Chéreau gelungen ist, aus dem üblicherweise majestätisch daherschreitenden König eine Figur aus Fleisch und Blut zu machen, die ihre Wut über Tristans "Verrat" an Melot - der die Liebenden angeschwärzt hat - körperlich auslässt und in seinem Verhalten gegenüber Isolde mehr als nur väterliche Liebe andeutet.

 

Chéreau zeichnet Tristan und Isolde als depressive Charaktere: der eine ein suizidal gefährdeter Autist, die andere eine hyperaktive Hysterikerin, die ihren Liebestod schließlich allein stirbt. Ihr platzt ihr eine Ader am Kopf. Der Liebestod: alles nur Halluzination. Diese Liebe ist ohnehin mehr als körperlich, auch wenn am Ende des 1. Aktes, nach der Einnahme des Liebestranks Tristan sich Isolde auf den Knien nähert und eine Falte ihres Kleides küsst. Dann erst kommt der körperliche Kontakt, nun aber so intensiv, dass die beiden Liebenden gemeinsam unterm Königsmantel verschwinden und von ganzen Menschenbündeln mit Gewalt voneinander getrennt werden müssen.

 

Erstaunlich, wie genau Chéreau auf seine Art den Handlungsanweisungen Wagners folgt. Das allzu realistische Bühnenbild von Richard Peduzzi hält allerdings auf Distanz: ein rostiger Kahn, der im ersten Akt in eine Art Tote Stadt hinein fährt, ein von Zypressen bestandener Burginnenhof im zweiten und ein karger Burghof im dritten Akt. Bei aller bewundernswerten Detailarbeit der Personenregie: Die Aufführung hat dennoch etwas von Jagsthausener Burgfestspielen. Ein bewgendes, intelligentes, ästhetischen Vergnügen, diese Mailänder Inszenierung, ohne Frage. Und Richard Peduzzi hat schon Geschmack. Aber dennoch ...müssen es eigentlich immer hohe Ziegelmauern des 19. Jahrhunderts sein? Und die faltenreichen, einfachen, zeitlos-modernen Kostüme der Moidele Bickel waren nicht eben sonderlich inspiriert.

 

Was die Besetzung angeht: Der Tristan des Ian Storey war schlicht eine Katastrophe, in der zweiten Vorstellung verlor er seine ohnehin unschön timbrierte, eng geführte, problematische Stimme total. Er quälte die Zuschauer sehr, weshalb sie ihn am Ende des 2. Akts ausbuhten. Daraufhin ließ er sich indisponiert erklären und markierte den dritten Akt nur noch. Man hörte über weite Strecken gar nichts mehr von ihm. Eine Zumutung! Solide immerhin die Brangäne Michelle Deyoungs, die allerdings optisch zur Oma mutierte. Matti Salminens König Marke, nobel und sicher wie immer, hat inzwischen hörbar Alterspatina angesetzt und an Kraft verloren. Aber immer noch eine Stimmatorität. Daniel Barenboim zauberte das Stück routiniert aus dem Hut. Nur: Die Scala ließ ihn zu nie gekannter Form auflaufen. Und das Orchester der Mailänder Scala ließ Farben aufleuchten, die man bei der Berliner Staatskapelle nie gehört hat. Ein italienisches Orchester eben. Und ein hochgefahrener Orchestergraben. Da blüht Wagner auf. Die Sensation dieser Aufführung war Waltraud Meier, die als Isolde über sich selbst hinausgewachsen war und mit einer Energie, Glut und Dramatik sang und spielte, wie man sie kaum je zuvor erlebte. Da überhört man auch gern ihr flackernde Stimmführung und die vielen ungenauen, falschen Töne. Hochintelligent immerhin lagt sie sich die sängerisch Partie zurecht. Chéreau hat´s möglich gemacht.

 

 

 

Die zweite große Wagnererfahrung betraf Neapel, die 2000 Jahre alte Stadt am Golf, die ein noch größeres, noch älteres und – mit Verlaub gesagt – noch schöneres Opernhaus besitzt als Mailand. Immerhin war Neapel ja lange vor Mailand Weltstadt, auch Weltstadt der Oper. Neapel pflegt eine alte Wagnertradition. Im Grunde seit Wagners Zeiten, als der „Meister“ in dieser Weltstadt am "Parsifal" komponierte. Der kam denn auch dort fast gleichzeitig mit dem Mailänder "Tristan" heraus. In einer ebenfalls sehr werktreuen Insze-nierung des italienischen Regisseurs Federico Tiezzi, der vor antiken Säulen, zwischen Flusskieseln und klassischen Reißbrettentwürfen das Drama der Sinnenabtötung zur Erlösung der Welt in Schwarz und Weiß ansiedelte.

 

Erstaunlich, wie sehr auch er sich an Wagners Szenenanweisungen hielt. Auch diese Inszenierung ist Nichts für Freunde des deutschen oder britischen Regietheaters. Aber das Stück fand statt, und es war anrührend zu sehen, wie das funktionierte, ohne alle Opernkon-ventionen, ohne alle Peinlichkeiten selbst bei den Gralsszenen, die als Versammlungen alter, weißhaariger Tattergreise in weißen Talaren gezeigt werden, Greise, die mehr von Folianten als von der Welt zu halten scheinen. Der Gral ist eine verstaubte Bibliothek. Am Ende streifen die Gralsbrüder ihre Kluft ab und zeigen sich als orangefarbige Saniassins. Wagners Beschäftigung mit dem Buddhismus läßt grüßen. Einmal der Welt enthoben, gleich welcher religiösen Überzeugung, immer der Welt verloren, das ist die Botschaft dieser Inszenierung. Parsifal hat das begriffen und zieht weiter, nachdem er die Gralsgesellschaft erlöst, aber eben nur zur Veränderung erlöst hat. "Erlösung dem Erlöser" bleibt uneingelöste Illusion. Eine einleuchtende, konsequente Inszenierung, in der keine Minute – nicht mal im anderthalbstündigen ersten Akt – Langeweile aufkam. Weil alles plausibel erzählt wurde.

 

 

Mehr noch als in Mailand macht man in Neapel eine musikalische Erfahrung, die das Wagnerhören deutscher Ohren nachhaltig verändert. Das barocke Teatro San Carlo (aus dem Jahre 1737) mit seinem sehr breiten und tiefen, aber eben fast auf Zuschauerniveau hochge-fahrenen Orchestergraben ermöglicht eine Klangsinnlichkeit, die alle Unvergleichlichkeit des Bayreuther Festspielhauses Lügen straft. So brilliant, so transparent, so glitzernd, so unteutonisch, so impressionistisch und dabei so klar hört man Wagner selten. Asher Fisch hat Großes vollbracht am Pult. Er hat Wagners "Parsifal" entfesselt zu einem mediterranen impressionistischen Klangrausch, ohne den spätromantischen Mystizismus des Werks zu verraten. Damit löst sich das Problem der Wagnerstimmen ganz von selbst. Keiner muß schreien. Es wurde bis an den Rand des Flüsterns gesungen. Man hat – anders als bei Barenboim in Mailand - jedes Wort verstanden. Und die Besetzung war in allen Partien fabelhaft: Albert Dohmen sang einen glaubhaft gequälten Amfortas, Kristinn Sigmundsson eine bestürzende Autorität von Gurnemanz, Lioba Braun eine junge, sinnliche Kundry. Die Wortverständlichkeit war nicht zu überbieten. Und Klaus Florian Vogt dürfte der derzeit beste Parsifal-Tenor sein, den die Opernwelt aufzubieten hat. Mit der größten Natürlichkeit und mit schönem Strahlglanz seiner Stimme singt er, jung, blond, und auch noch blauäugig den tumben Toren, so, wie man ihn sich nur wünschen kann, aber eben selten hört. Es lohnt sich. In Italien in Wagneraufführungen zu gehen!

 

 

Beiträge in der ARD und in "Orpheus"