Dewitz: La Bohème

Dieter David Scholz

 

 

Panorama und Panoptikum

der Selbstinszenierung des Künstlers im Photo

 

Bodo von Dewitz (Hrg.): La Bohème.

Die Inszenierung des Künstlers in Fotografien des 19. und 20. Jahrhunderts. Steidl Verlag, Göttingen 2010. 397 Seiten, 58 Euro

 

Buchbesprechung im DLR, 31.12.2010

 

Moderatorin:„La Bohème“ - noch bis zum 9. Januar ist im Kölner Museum Ludwig eine Ausstellung zu sehen, die sich mit der Inszenierung des Künstlers in Fotografien des 19. und 20. Jahrhunderts befasst. Zur Kölner Ausstellung ist ein opulenter Katalog erschienen, den uns Dieter David Scholz jetzt vorstellen wird. Herr Scholz, wer hat den Begriff der Bohème eigentlich erfunden? Puccini selbst war es ja nicht…

 

Nein, es war Henri Murger. Er beschrieb 1851 in seinem Roman » Scènes de la Vie de Bohème « erstmals das Leben armer Künstler im bürgerlichen Zeitalter. Und begründete damit den romantischen Mythos vom anarchischen Geist der Kreativen, der Künstler und solcher, die welche sein wollen. Und er definierte diese Existenzweise gewissermassen als Durchgangsstadium, das durch Normverstöße in der Lebensführung provoziert und fasziniert. Ganz wesentlich zu der Bohème gehört die Opposition zur Bourgoisie, gehört das Subversive, Freche, Anarchische, Antibürgerliche und Antiautoritäre. Auch das Prodistische gehört dazu. Im Grunde all das, was auch den Geist und das Musik-theaater von Jacques Offenbach ausmacht. Der wird auch in einem sehr klugen Aufsatz von Eberhard Illner als Paradebeispiel eines Bohèmiens dargestellt. Und ich muss sagen, wer Offenbach und sein Musiktheater bis jetzt nicht nicht verstanden hat, der lernt ihn in diesem Band über die Bohème wirklich kennen.

 

Moderatorin: Spricht man von der „Bohème“, dann geht es meist um legendäre Geschichten von ausufernden Feiern, um einen schrillen Lebensstil, um den Verstoß gegen vielerlei Konventionen. Geschichten, die die Fotografen der vergangenen 150 Jahre liebten. Was sind das für Bilder-Geschichten?

 

Also es sind Daguerreotypien und Fotografien von Malern, Bildhauern, Literaten, Schauspielern, Sängern, Komponisten und ganz normalen Aussenseitern. Vor allem gibt es wunderbare Photos um Jacques Offenbach herum. Es gibt Einzel- und Gruppenporträts, Atelierszenen, Ablichtungen von Historienspielen, von so genannten Lebenden Bildern und Künstlerfesten aus dem späten Biedermeier und der Belle Epoque bis in die 1920er Jahre. Das Buch schließt mit Darstellungen von den Kölner Lumpenbällen und den legendären Bauhaus-Festen in Weimar und Dessau. Ein paar konkrete Beispiele: George Grosz posiert als amerikanischer Gangster, der Kommunist Otto Dix wirft sich in Dandy-Pose, Gauguin spielt ohne Hose auf Muchas Harmonium und die Künst-lergruppe „Sturmfackel“ lässt sich gar bei einer Orgie ablichten. Der Schauspieler Désiré posiert 1865 als Jupiter, der sich in eine Fliege verwandelt hat (in Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“). Das ist eines der tollsten Photos dieses Buches. - Bodo von Dewitz, Kurator der großen Bohème-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig und Herausgeber dieses prachtvollen Buches, hat hunderte von Photos gesammelt und zusammengestellt. Und er hat durch seine Auswahl der Photos sehr eindrucksvoll Legende und Mythos der Bohème Lügen gestraft, denn die anarchische Frechheit, die Phantasie, die Verrücktheit, auch das heimliche Elend und die Radikalität des Aussenseiterischen dieser Abbildungen spricht für sich.

 

Moderatorin: An welchen Orten sind die Bilder entstanden?

 

In Künstlerateliers, in Restaurationen, in Privatwohnungen, an verruchten und viele anderen Orten. Es gibt beispielsweise auch Reisefotos. Darunter ist ein ganz verrücktes Bild von 1875 : Eine Künstlergruppe um Franz von Lenbach und Hans Makart lässt es sich in Ägypten gut gehen und legt sich in seltsam manirierter, bräsig liegender, kja hingegossener Konstellation in den Sand. Offenbar stellt man Pieter Brueghels „Schlaraffenland“ als lebendes Bild nach. - Die Bildauswahl schlägt aber einen großen, phantasievollen Bogen vom frühen neunzehnten Jahrhundert bis ins Zwanzigste.

 

Moderatorin: Sind das überwiegend Schnappschüsse oder haben sich die Künstler vor und für die Kamera inszeniert?

 

Teils, teils. Unter den vielen Photographien sind manche Schnappschüse, gerade wenn es um die Dokumentation der Arbeitsverhältnisse und Vergnügungswelten geht. Aber zum größten Teil sind es doch inszenierte Photos. Es gibt überwältigende Selbstinszenierungen der Künstler aus Montmartre und Montparnasse. Paris ist natürlich das Zentrum des Buches. Man darf nicht vergessen, und das macht dieses Buch deutlich: Die Selbstinszenierung des Künstlers gehört wesentlich zur Pariser Bohème dazu. Und nicht zufällig fällt der Beginn dieses Bohème-Kults mit der Erfindung der Fotografie zusammen.

 

Moderatorin: Waren die Fotografen selbst Teil dieser Bohème?

 

Ja, zum großen Teil. Der Beruf des Photographen gehörte ja im 19. Jahrhundert noch wie der des Künstlers auch zur ausserbürgerlichen, oder sagen wir randbürgerlichen Existenz, so wie der Friseur oder der Bühnenkünstler. Prominent vertreten sind die Aufnahmen von Felix Tournachon genannt Nadar, ein berühmter Photograph, der nicht nur führendes Mitglied der Pariser Boheme war, sondern auch seine Freunde und berühmte Zeitgenossen ablichtete.

 

Moderatorin: Allesamt große Namen oder auch unbekannte Fotografen?

 

Natürlich gibt es viele Photos von großen Namen. Aber neben Bildern von bedeutenden Fotografen wie Nadar, Alois Löcherer, Wilkie Wynfield, Julia Margaret Cameron, August Sander und Lux Feininger sieht man auch zahlreiche ungewöhnliche Aufnahmen völlig unbekannter Photographen.

 

Moderatorin: überwiegend schwarz/weiß?

 

Naturgemäß. Die Farbfotografie wurde erst später erfunden...

 

Moderatorin: Welches Lebensgefühl spiegeln diese Bilder?

 

Sie spiegeln eine ungeheure Phantasie, Ungezwungenheit, auch im moralischen Sinne, es gibt Momente von großer Ausgelassenheit, ja exzentrischer Verrücktheit, aber es gibt auch sentimentale Photos, sie alle vermitteln Freude und Kummer des Aussenseiterseins, Opposition zum Establishment, Antibürgerlichkeit, bis hin zum erklärten Kampf gegen das Spiessertum. Einige Fotos sind recht frivol. Es gibt auch groteske Photos. Ein Panoptikum darf man diese Sammlung nennen. Das Buch ist so etwas wie ein Panorama über den Künstler als tabubrechenden Außenseiter, als Star einer schillernden Halbwelt, aber auch als genialischer Hungerleider.

 

Moderatorin: Nimmt man die Bilder allesamt als historisch wahr – als Eindrücke aus einer „verlorenen Zeit“ ?

 

Also wenn man die Photos mit heutigen Künstlerphotos oder Photos von Kostümfesten, Karnevalsveran-staltungen, Fêten oder Silvesterparties vergleicht, dann muss man doch sagen: Was für eine Phantasie, was für einen theatralischen Sinn, was für eine ungehemmte Sinnlichkeit hatten die Menschen früher! Und da wird man dann schon etwas nostalgisch und wehmütig. Aber das Buch hat nichts Museales. Im Gegenteil. Die Lektüre dieses Buches macht heiter!

 

 

Moderatorin: Dieter David Scholz über „La Bohème“ – der von Bodo von Dewitz herausgegebenen Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kölner Museum Ludwig. „La Bohème - Die Inszenierung des Künstlers in Fotografien des 19. und 20. Jahrhunderts“. Das Buch ist im Steidl Verlag erschienen für 58 Euro – und die Ausstellung im Museum Ludwig ist noch bis zum 9. Januar zu sehen.