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Faszinierendes Tor zu einer vergessenen Aufführungspraxis
Ein eindrucksvolles Plädoyer für Liszts gemäßigte Tempi
Bernhard Ruchti: „…das Gewaltigste, was ich je auf der Orgel gehört habe“
Franz Liszts Ad Nos als Tor zur Wiederentdeckung einer verborgenen Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts. Königshauen & Neumann 2021, 220 S., Hardcover 39,80
Audio CD & DVD Bernhard Ruchti. Liszt a Tempo
Music Just Music MJM-CCK 189
Die Frage der „richtigen“ historischer Tempi ist eine der zentralen Fragen der Aufführungspraxis, nicht nur der „historisch informierten“. Eine der wichtigsten Quellen für die Tempoforschung ist Franz Liszts große, ja großartige Fantasie & Fuge Ad Nos, ad salutarem undam“ für Orgel (und einer Version für Klavier) zu vier Händen aus dem Jahre 1850. Es handelt sich um Liszts umfangreichstes Orgelwerk dessen Thema eine choralhafte Melodie ist, die Liszt (der ja viele Opernparaphrasen für Klavier schrieb) aus der 1849 uraufgeführten Oper „Le Prophète“ von Giacomo Meyerbeer entnommen hat, einem der erfolgreichsten und meistgespielten Werke der Operngeschichte in ganz Europa wurde. Genau gesagt, handelt es sich um ein Thema aus dem Choral der Wiedertäufer aus dem ersten Akt der Oper: „Zu uns, zum Wasser des Heils, kommt zum zweiten Mal, ihr Mühseligen“ (gemeint ist die unda sacra, das Taufwasser).
1855 wurde das Werk uraufgeführt, im Rahmen des Einweihungskonzertes der neuen, viermanualigen Orgel im Merseburger Dom, die von Friedrich Ladegast aus Weißenfels erbaut wurde. Das große und klanglich äußerst differenzierte, als modern und unvergleichlich empfundene Instrument erregte internationales Interesse. Das Einweihungskonzert vom 26.9. 1855, 17 Uhr, hat ein europaweites Presseecho ausgelöst.
Rezensionen bzw. Aufführungsberichte gab es von fünf deutschen Medien, der „Neuen Zeitschrift für Musik“, der „Neuen Berliner Musikzeitung“, in den „Signalen für die musikalische Welt“, in der Musikzeitschrift „Euterpe“, der „Illustrierten Zeitung“ aus Leipzig und in der „Urania“.
Aus Wien waren Musikkritiker der „Blätter für Musik, Theater und Kunst“ gekommen, der „Neuen Wiener Musik-Zeitung“, der „Blätter für Musik, Theater und Kunst“ und aus London Journalisten der „Musical World, a Weekly Record of Musical, Science and Intelligence“. Zu schweigen davon, dass das Stück eine enorme Nachwirkung in Europa und in Übersee hatte. All das ist detailliert nachzulesen bei Bernhard Ruchti.
Daher weiß man sehr viel und Genaues über das große, vielteilige Einweihungskonzert, in dessen Mittelpunkt Liszts „Ad nos“ stand, in der Interpretation des Liszt-Schülers Sacha Winterberger, ein „Künstler ersten Ranges“, wie Liszt an die Freundin Agnes Street-Klindworth schieb.
Gleich vier voneinander unabhängige Zuhörer haben dokumentiert, dass die Interpretation des Werks bei der Uraufführung 45 Minuten dauert. Heutige Aufführungen dauern in der Regel etwa 30 Minuten und weniger, eine enorme Differenz. Ruchti listet alle wichtigen Interpreten und ihre Interpretationen von 1952 bis in die Gegenwart auf. Über kaum ein anderes Werk des 19. Jahrhunderts und seine Uraufführungsinterpretation ist man so gut informiert.
Der Schweizer Pianist, Organist und Musikwissenschaftler Bernhard Ruchti betrachtet daher das „Ad nos“ „als ein Tor zu einer vergessenen Aufführungspraxis, als ein Fenster, durch das ein unerwartet genauer Blick auf das Wesen und die Kriterien der Virtuosität nicht nur in der Musik Franz Liszts, sondern generell im Musikleben um 1850 gelingt“. In seinem Buch, in dem er die Entstehungsgeschichte des Werks beschreibt und eine Analyse desselben aufbietet, geht es ihm darum, dies zu belegen und zu präsentieren als „Inspiration für heutiges Musikverständnis und heutige Interpretation“.
Mit Blick auf Liszts gut dokumentierte Interpretationen der Sinfonien Beethovens und Richard Wagners Aufsatz „Über das Dirigieren“ (den nicht nur Ruchti für einen der besten Aufsätze Wagners hält) als „Rundum-Kritik namentlich an der Beethoveninterpretation seiner Zeit“ nähert sich Ruchti den Lisztschen Tempi. Wagner erklärte: „Nur die richtige Erfassung des Melos gibt aber auch das richtige Zeitmaß an.“ Vor diesem Hintergrund und nach Maßgabe des „sentimentalen Allegro“ (Wagner) erklärt Ruchti die „Reduktion des absoluten Tempos“ zur Richtschnur einer angemessenen Interpretation des „Ad nos.“ Dies entspreche Liszts Begriff des „periodischen Vortrages,“ was meint: „Betonung, Rhythmisierung, Phrasierung, Deklamation und ein flexibles Tempo“. Wie Ruchti mit zahlreichen Zitaten von Rezensionen Lisztscher Interpretationen dokumentiert, habe der stets langsamere Tempi als die meisten Interpreten genommen. Schließlich kommt Ruchti auf den Wandel des Begriffs des Virtuosen zu sprechen, weg vom „zirkushaften Zur-Schau-Stellen des eigenen physisch-mechanisch-darstellerischen Könnens“ (Franz Brendel) hin zu “innerlich echter Virtuosität“ (Hans von Bülow), der sich ebenfalls für gemäßigte Grundtempi aussprach Eine Interpretation, so Ruchti, „die die satztechnischen Details der Komposition mit Hilfe von Artikulation und Phrasierung herausarbeitet und sie mit Mitteln des periodischen Vortrags in den Gesamtablauf eingliedert, hat eine Ausstrahlung von ungeheurer Kraft und Wucht.“ Dieses „Interpretationsprinzip der Deutlichkeit“ scheint „auch in Liszts Interpretationsästhetik eine zentrale Rolle“ eingenommen zu haben.
Ausgehend von der Uraufführungsinterpretation des „Ad nos“ ist dieses außerordentlich profund und gründlich gearbeitete, sorgfältig hergestellte Buch (Hardcover, Fadenbindung, viele Abbildungen) ein Plädoyer für das „künstlerische Virtuosentum“ (Hans von Bülow), wie es Franz Liszt beispielhaft verkörpert habe. „Liszts Vision der Interpretation“, so Ruchti, „wie sie von ihm als Pianist, Dirigent und Pädagoge entwickelt und vermittelt wurde, büßt, heute wiederentdeckt, nichts von ihrer Faszination und Tiefe ein.“ Es komme einer „Neuentdeckung gleich, „wenn Liszts Prinzipien, sein Stil, und seine Interpretationspraxis wiedergefunden und in ihrem Potenzial erkundet werde. Dazu öffnen die Fantasie und die Fuge über „Ad nos, ad salitarem undam“ in der Tat ein einzigartiges, beeindruckendes Tor.“ Der Autor hat zahlreiche Notenbeispiele, Quellen, Anmerkungen und Materialanhänge (Rezensionen, Artikel, Nachrufe etc.) sowie ein Literaturverzeichnis und eine Übersicht über die Disposition der großen Ladegast-Orgel im Magdeburger Dom beigefügt. Chapeau!
Wer will, kann auf sich auf einer Extraedition (DVD und CD) Vorträge Bernhard Ruchtis über das Thema des Buches und seine Interpretation des „Ad nos“ im Originaltempo an der Original-Orgel der Uraufführung in Video und Audio zu Gemüte führen.