Orpheus in der Unterwelt Magdeburg

Foto: Theater Magdeburg/Andreas Lander


Orpheus in der Unterwelt- Musikalisch überwältigndes Missverständis


Theater Magdeburg Magdeburg, Premiere 12.11.2022

 

Die am 11. Oktober 1858 uraufgeführte Opéra bouffe in zwei Akten und vier Bildern „Orphée aux Enfers“, die Texte stammten von Henri Crémieux und Ludovic Halévy war Offenbachs größter Erfolg. Erst nachdem die Behörden alle Beschränkungen fallen gelassen hatten, konnte Offenbach über Größe seines Ensembles einschließlich Sängern, Chor, Ballett und Statisterie selbst entscheiden, soweit es der Saal in seinem Théâtre, in der Passage de Choiseul zuließ. Komponiert hatte er „Orphée aux Enfers“ in Paris, aber auch in Bad Ems und Brüssel, wo Offenbach vor Gläubigern sicher war. Er hatte Schulden und Geldsorgen. Derer wurde er vom gewaltigen Erfolg des Werks enthoben.

Seit den Anfängen der Oper war Orpheus das meist vertonte Sujet des Musiktheaters. Auch im Gebiet des heiteren Musiktheaters gibt es Vorläufer Offenbachs, beispielsweise Jahrmarktstheaterstücke, französische Komische Opern, Wiener Singspiele und Kölner Karnevalspossen (Divertissementchen). Es gab zahlreiche Parodien auf mythologische Themen.

Wie auch immer: Das Werk war ein künstlerischer und ein Kassenerfolg und es ist charakteristisch für ihn, seine Opéra bouffe und das Zweite Kaiserreich. Offenbach war der konkurrenzlose Zirkusmann und Zensor seiner Epoche auf dem Musiktheater, er verspottete und amüsierte zugleich, Das gab es nie wieder. Zweihundertsiebenundzwanzig Mal wird das Stück en suite gespielt. In einer zweiten Serie wurde es für das Kaiserpaar und den Hof im Théâtre des Italiens geben. Das Stück lief in Paris während der gesamten Lebenszeit Offenbachs nahezu ununterbrochen. Bis 1878 gab es die tausendste Vorstellung. Es war sein erstes abendfüllendes Stück und in ihm hatte er sein Erfolgsgeheimnis zum ersten Mal perfekt verwirklich: Parodie der Antike durch Transposition in die Gegenwart des Zweiten Kaiserreichs, Karikatur der Kunst auf Kothurnen sowie des Schwulstes der Klassiker-Bühne und der Sinnwidrigkeiten großer Oper.  Ferner gehörten dazu subtiler Einsatz von Ironie, Karikatur, Scherz, Satire und Doppelbödigkeit.  Auch Offenbachs Musik zeichnet sich durch Mehrschichtigkeit aus, es ist elegante Musik über Musik voller Witz, Anspielungen und Zitate. René Leibowitz nannte sie „Verkleidete Musik“. „Orphée aux Enfers“ ist das Paradebeispiel einer Opéra bouffe, nicht zu verwechseln mit „Operette“. So nannte Offenbach nur Einakter. Er nahm es sehr genau mit den unterschiedlichen Gattungsbezeichnungen seiner Werke.


Und es darf noch einmal daran erinnert werden, was Egon Friedell in seiner geistreichen “Kulturgeschichte der Neuzeit“ von 1927 den Werken Offenbachs bescheinigte, dass sie „beißende, salzige, stechende „Persiflagen der Antike, des Mittelalters, der Gegenwart“ seien, „aber eigentlich immer nur Gegenwart und im Gegensatz zur Wiener Operette, die erst eine Generation später ihre Herrschaft antrat, gänzlich unkitschig seien , amoralisch, unsentimental, ohne alle kleinbürgerliche Melodramatik, vielmehr von einer rasanten Skepsis und exhibitionistischen Sensualität, ja geradezu nihilistisch.“


Bald wurde das Werk nachgespielt in aller Welt, in Breslau, Berlin, Hamburg, Berlin, aber auch in Neapel, Valparaiso, Prag, London sowie in Ungarn, Spanien. Portugal den USA, Australien. Die Tantiemen ermöglichten Offenbach den Bau der Villa Orphée im mondänen Seebad Étretat in der Normandie.1875 arbeitete Offenbach seinen „Orpheus“ zu einer „Féerie“, einer großen Ausstattungsrevue mit vier Akten um, zu der kürzlich der Offenbach-Herausgeber Jean-Christophe Keck eine Ballettszene, „Le Royaume de Neptune“ gefunden hat. Insgesamt gibt es sogar drei Fassungen. Heute spielen die Theater meist Mischfassungen.  Für Wien, die „Drehscheibe „Offenbachs und seiner Rezeption, komponierte Kapellmeister Carl Binder eine großangelegte Konzertouvertüre nach.

 

Die Handlung ist eine ebenso respektlose wie gewitzte Verballhornung des antiken Mythos, an der der Kritikerpapst Jules Janin erfolglos Anstoß nahm. „Schon die Avant-Scene der „Öffentlichen Meinung“, die nach eigener Ankündigung den Chor der Alten ersetzt, ist zum Lachen. Vor ihr erzittern nicht nur Orpheus, der sich vom klassischen Barden zum modernen fatterhaften Geiger, Professor des Konservatoriums in Theben gewandelt hat, nicht nur seine untreue, in den Imker und Honighändler Aristeus, alias Pluto, verliebte Gattin Euridyce, die mit Wonne den abenteuerlichen Weg zur Unterwelt antritt, sondern auch die „Unsterb1ichen“, die Götter des Olymps. Auf Wolken gebettet, im Summchor schnarchend, ruhen sie sich von allzu irdischen Amüsiereskapaden aus, samt ihrem Ober-Gott Jupiter, gegen den sie zu den Klängen der (unter Louis-Napoléon als Aufruhrlied verpönten) Marseillaise revoltieren. Um der Langeweile, dem schlimmsten aller Übel, zu entgehen, ziehen sie mit ihrem stets auf Liebesabenteuer erpichten Götterkönig zur Unterwelt hinab, wo der ständig betrunkene Pluto-Diener Styx Eurydice bewachen soll, aber die Annäherung Jupiters in der Verkleidung einer summenden Fliege nicht verhindern kann. Den Nektar-Rausch (oder ist es Champagner) des Höllenfestes bei Pluto — Opernparodie und Verherrlichung neuer Lebensfreude in einem — kann nur die „Offentliche Meinung“ unterbrechen. Vor ihr muss sich auch der Götter-Chef beugen. Wie das Gesetz der Sage es befiehlt, soll Orpheus sein Weib wieder in die Welt der Sterblichen zurückführen, mit der klassischen Bedingung, sich vor Ende der Wanderung nicht nach ihr umzuwenden. Doch aller Vorsorge der „Öffentlichen Meinung“ zum Trotz bleibt Jupiter der Sieger; ihm wird Euridyce als Bacchantin in den Olymp folgen. Pluto, der gegen diese Entstellung der Mythologie protestiert, wird mit der Bemerkung abgefertigt: „Unsere Hofbuchdruckerei wird eine neue, verbesserte Auflage herausbringen!“, worauf Sterbliche und Unsterbliche sich im Rausch, im bacchantischen Taumel des Höllengalopps vereinen. (P. Walter Jacob).

Dieser Höllengalopp „Galop infernal“ ist eine der charakteristischsten, aber auch missbrauchtesten Musiken Offenbachs, sie wird noch heute dem Publikum meist „als typisch französischer Cancan vorgegaukelt“ (Peter Hawig). Dabei ist dieser Galop weit entfernt von dem Moulin-Rouge-Gekreische jener Touristen bespassenden, strumpfbandbestückten und Röcke werfenden Damen, wie es in den 1890er Jahren Mode in Paris war Bei Offenbach (Gustav Doré hat es in einem Gemälde festgehalten) wird zu dem Höllengalopp ein tosendes Bacchanal in phantastischen Antiken-Kostümen getanzt!

 

Auch in Magdeburg spielt man eine Mischfassung mit der großen Wiener Konzertouvertüre Binders und den Höllengalopp nicht im Sinne Offenbachs. In der Übertitelung heißt es „Nun tanzt man Cancan, das ist der Tanz, der in Paris modern ist.“ Da glaubt man seinen Augen nicht zu trauen. Dieser Text stammt eindeutig nicht von Offenbach. Und die entsprechende Tanznummer (ein Galopp) hätte auch in einem jener zwielichtigen Etablissements im Pariser Rotlichtbezirks Pigalle stattfinden können. Welch ein Missverständnis, um nicht zu sagen: welch eine Vergewaltigung Offenbachs. Aber das Publikum will diese Nummer sehen, allerorten, Und es hat gejohlt vor Spaß in Magdeburg, Zumal die acht TänzerInnen den „Cancan“ en travestie und als TeufelInnen in rotblauen Fummeln zum Besten gaben.  Das Ballett des Theaters Magdeburg zeigte sich unter Leitung von Lukas Strasser in bester Form.


Überhaupt war die Aufführung eine große Gaudi: Schlafende Gottheiten in weiß in einem von Schäfchenwolken überflogenen hellblauen VIP-Raum. Ein halb von Bienensymbolen und Küchenkram, halb von Noten und Preisauszeichnungen dekorierter Raum markierte die Privatsphäre von Orpheus (Musiklehrer in Theben) und seiner Gattin Eurydike. Vor einem roten Vorhang mit Revuelichterkette war die Hans Styx-Szene und die Verführung Eurydikes durch Jupiterangesiedelt. Die Unterwelt war eine rote Spelunke namens Plutonium. In dieser Szenerie, die viel Raum ließ für revueartige Massenszenen des vortrefflich singenden, agierenden und tanzenden Opernchors des Theaters Magdeburg (und angemessenes komisches Spiel der Solisten. Kalauer und Blödeleien blieben weitgehend aussen vor. Es war eine geschmackvolle, eine turbulente Aufführung, die Offenbach zur Ehre gereichte, trotz eklatanter Missachtung seiner Vorgaben, was den Galopp angeht.


Der betrunkene Hans Styx von Manfred Wulfert und der Himmelwart von Peter Wittig schossen den Vogel ab, zwei Offenbachtypen, wie man sie besser nicht hätten finden können.Sängerisch war die Aufführung überhaupt bis auf zwei Ausnahmen ausgezeichnet. Der rustikale Tenor Jean Miannay als Orpheus und die sensationelle Soubrette im Format einer ausgewachsenen Koloratursopranistin namens Rosha Fitzhowle als Eurydike waren launige Sängerdarsteller. Na´ama Shulman als Diana war entzückend. Ebenso Jeanett Neumeister als draufgängerische Venus. Auch Weronika Rabek als Cupido erfreute Ohren und Augen. Einzig die stimmlich überforderte Undine Dreißig enttäuschte, die mit den kümmerlichen Resten ihrer Stimme als Öffentliche Meinung auftrat. Ebenso der in Stimme wie Diktion schludrige Jupiter von Doğukan Kuran. Er war eine allzu blasse Bühnen-Gestalt ohne jede Ausstrahlung und alles andere als eine – wenn auch angeschlagene und verspottete - Göttervater-Autorität. Um so beeindruckender war Adrian Domarecki als Pluto, stimmlich wie darstellerisch seinem Gegenspieler Jupiter haushoch überlegen. Er war auch der einzige Sänger (neben dem Hans Styx von Manfred Wulfert), den man verstand.


Alle anderen sangen (obwohl auf Deutsch) textunverständlich. Gottlob gab es Übertitel. Ansonsten hat das Sänger-Ensemble des Hauses insgesamt überzeugt.


Geradezu sensationell darf das Dirigat von Pawel Poplawski und das klangschöne Spiel der Magdeburgischen Philharmonie gelten. Poplawsi dirigierte keinen leichtgewichtigen, seichten, sondern eine kraftvoll süffigen, farbigen und elegant-tänzerischen Offenbach mit wunderbaren solistischen Stellen, mit Verve und Witz, Tempo und Intelligenz. Das war keine Spaßmusik! Poplawski hat die Musiksprache Offenbachs verstanden und weiß sie zum Klingen zu bringen. Ein betörender, ein mitreißender Offenbach-Sound in all seiner Doppelbödigkeit und Raffinesse. Der Dirigent kostet jeden Takt und Taktwechsel aus, Er erweist Offenbach alle Ehre und beglaubigt ihn als großen, ja Verdis und Wagners ebenbürtigen Komponisten einer nie wieder erreichten Gattung heiter satirischen Musiktheaters.